Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
Nicht ohne meine Familie
BERLIN Anfang Juni, Tiergarten, Berlin. Im Dreieck zwischen Kanzleramt, Bundestag und Schloss Bellevue feiern die Brauer 500 Jahre Reinheitsgebot. Eine besonders herausragende Persönlichkeit soll die Festrede halten. Als „Bierbotschafter“geht Bundestagspräsident Norbert Lammert (67) ans Rednerpult und kommt bereits nach 40 Sekunden zu einem zentralen Satz: „Das ist nicht das erste, aber das letzte bedeutende Amt, das ich in meiner politischen Laufbahn freiwillig annehme.“Einer, der seine Worte so wählt, dass sie für die Ewigkeit in Stein gemeißelt werden können, hat sich damit einstweilen aus dem Rennen genommen. Denn längst spekuliert das Regierungsviertel über den Bochumer als neues Staatsoberhaupt. Typisch Lammert: den Seinen beim Bier reinen Wein einzuschenken.
Die Lage ist festgefahren. Da ist auf beiden Seiten einer, der zu gerne Bundespräsident werden würde. Und beide wären sehr gute Staatsoberhäupter: Wolfgang Schäuble auf der schwarzen, Frank-Walter Steinmeier auf der roten Seite. Aber Schäubles Kandidatur ist schon bei früheren Gelegenheiten am eigenen Lager gescheitert, und Steinmeier bräuchte für eine sichere Wahl die hundertprozentige Rückendeckung von SPD, Grünen und Linken und möglichst noch ein paar Stimmen darüber hinaus. Eine unsichere Bank. Zumal die Unterstützung durch CDU und CSU unwahrscheinlich ist. Denn in der Union käme es nicht gut an, würde Parteichefin Angela Merkel einen SPD-Kandidaten vorschlagen – bringt es die Union in der Bundesversammlung doch auf 43 Prozent aller Stimmen. Mit dieser Kraft einen Schwächeren stärken? Im Bundestagswahljahr? Zwei Monate vor der NRW-Wahl? Unionskreise antworten drei Mal mit Nein.
Winfried Kretschmann, dem GrünenLandesvater aus Stuttgart, trauen etli- che in Union und Grünen zwar auch zu, ein guter Bundespräsident zu sein. Er regiert Baden-Württemberg jetzt schon präsidial. Aber das wäre ein Signal für Schwarz-Grün, und das möchten viele in der Union auch nicht. Bleibt die Variante, sich für zwei Möglichkeiten vorzubereiten: Eine gute Persönlichkeit für die ersten beiden Wahlgänge zu finden, wenn es die absolute Mehrheit sein muss, und möglicherweise einen Überraschungskandidaten in der Hinterhand zu haben, der dann im dritten mit einfacher Mehrheit gewählt wäre. Auf letztere spekulieren viele im linken Lager, die ein Signal für Rot-Rot-Grün erleben wollen – was wiederum die Union verhindern will.
Also läuft die Suche nach einem Menschen, der überparteilich akzeptiert ist und gleichzeitig die Mechanismen der Bundespolitik beherrscht. Schließlich könnte Deutschland schwierigen Mehrheiten entgegengehen, und dafür hat die Verfassung den Bundespräsidenten mit stabilisierenden Vollmachten ausgestattet. Manche kommen bei diesen Überlegungen auf Andreas Voßkuhle, den Präsidenten des Bundesverfassungsgerichtes, der allerdings schon 2012 abgesagt hatte.
Immer mehr landen bei Lammert. Einerseits ist er vom Werdegang her eine verlässliche CDU-Größe. Der Bäckersohn trat mit 16 der Jungen Union bei, war mit 18 CDU-Mitglied, mit 27 CDURatsherr seiner Heimatstadt Bochum, mit 32 CDU-Bundestagsabgeordneter. Dann Staatssekretär in drei Kabinetten von Helmut Kohl für Wissenschaft, für Wirtschaft und für Verkehr, zehn Jahre lang einer der einflussreichsten Strippenzieher für die NRW-CDU als Landesgruppenchef, schließlich Vizepräsident und Parlamentspräsident.
Andererseits aber, und da horchen die anderen Parteien hin, geht er für seine Oberen nicht durch Dick und Dünn. Dem seinerzeitigen Fraktionschef Wolfgang Schäuble überbrachte er die Einschätzung, dass dieser zurücktreten
Typisch Lammert: den Seinen beim Bier reinen Wein einschenken