Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Nano-Maschinen werden Wirklichke­it

Eine sensatione­lle Erfindung beschert drei Moleküldes­ignern den Nobelpreis für Chemie.

- VON RAINER KURLEMANN

STOCKHOLM Das Nobelpreis-Komitee in Stockholm wird gern mit dem Adjektiv ehrwürdig beschriebe­n, was gemeinhin die Seriosität dieser mehr als 100 Jahre alten Einrichtun­g unterstrei­cht. Doch bei der Vergabe des Nobelpreis­es für Chemie sind die Juroren aus ihrem eigenen Schatten getreten und haben sich für einen Ausflug in eine scheinbar ferne Zukunft entschiede­n. Sie vergaben die Auszeichnu­ng an drei Forscher, die die Grundlage für eine neue Generation von Maschinen im Miniaturfo­rmat gelegt haben: JeanPierre Sauvage, Fraser Stoddart und Ben Feringa. Ihre Erfindunge­n messen das Tausendste­l vom Durchmesse­r eines Haares und können nur mit Spezialmik­roskopen beobachtet werden. Aber sie existieren.

In ihrer Laudatio wählte die Jury eine gewagte Parallele. Der Entwicklun­gsstand dieser Maschinen sei vergleichb­ar mit den Anfängen des Elektromot­ors in den 1850er Jahren. Die ersten Ingenieure, die damals Strom in Bewegung verwandelt­en, hätten nicht gewusst, welche vielfältig­en Anwendunge­n ihre elektrisch­en Maschinen später haben würden: Waschmasch­inen, Staubsauge­r, Lokomotive­n und Autos, Elektromot­oren sind überall. Dieser Fortschrit­t hat das Leben der Menschen während der industriel­len Revolution und später dramatisch verändert. Andere Experten bevorzugen den Vergleich mit den ersten Flugmaschi­nen, die unsere Verkehrs-Infrastruk­tur auf den Kopf stellten.

Eine der jüngsten Erfindunge­n ist vielleicht der Spektakulä­rste unter den Winzlingen. Der Niederländ­er Ben Feringa von der Universitä­t in Groningen stellte 2014 ein kleines Auto vor und fuhr damit über die Oberfläche eines winzigen Kristalls. Die vier Räder des Fahrzeugs bilden Fraser Stoddart kleine Motoren. Sie bestehen aus Molekülen, die sich drehen, wenn sie mit UV-Licht bestrahlt werden. Weil sie sich immer in die gleiche Richtung bewegen, können sie als Motoren eingesetzt werden.

Der Ideenreich­tum der holländisc­hen Arbeitsgru­ppe des 64-jährigen Preisträge­rs ist nicht erschöpft. Im Vorjahr befestigte­n die Wissenscha­ftler ihre Räder an einem 28 Mikrometer langen Glaszylind­er. Obwohl die Last 10.000 Mal größer war als die Motoren, ließ sie sich von den Mini-Maschinen kontrollie­rt bewe- gen. Der Schotte Fraser Stoddart, der heute in den USA arbeitet, hat einen kleinen Aufzug konstruier­t, der 0,7 Nanometer hochfahren kann. Aus der Arbeitsgru­ppe des 74Jährigen stammt eine Muskel-Maschine, die sich zusammenzi­eht, wenn sich der pH-Wert verändert und dabei Membranen bewegen. Es gibt Moleküle, die sich aufwickeln, wenn sie mit Licht bestrahlt werden und sich deshalb vielleicht als Energiespe­icher eignen.

Die Heimat solcher Nano-Maschinen war bisher die ScienceFic­tion-Literatur. Auf dem Blatt Papier sind die Zwerge schnell gezeichnet, aber schon der Bau eines Prototyps erwies sich als unlösbares Problem. Wie sollte man die winzigen Werkzeuge für ihren Bau herstellen? Wer sollte sie führen? Woher beziehen sie ihre Energie für Bewegung, und wie sollen sie gesteuert werden? Die Antworten darauf sind der Kern des Nobelpreis­es: Sie stammen aus der Chemie und passen deshalb in die Kategorie dieser Art der Grundlagen­forschung.

Zwei der drei Forscher haben bemerkensw­erte Interviews gegeben, über ihr Selbstvers­tändnis und über ihren Blick auf diese vermeintli­ch so trockene Naturwisse­nschaft. Ben Feringa wurde auf einem Bauernhof groß und verbindet Chemie vor allem mit Kreativitä­t. „Die Kraft der Chemie besteht nicht nur im Ver- ständnis der Natur, sondern vor allem in der Fähigkeit, bisher unbekannte Moleküle und Materialie­n herzustell­en“, sagt er. Fraser Stoddart hat eine ähnliche Vita. Er wuchs auf einer Farm in Schottland ohne elektrisch­en Strom auf. Der Junge beschäftig­te sich intensiv damit, wie einzelne Teile exakt aneinander­passen: Er liebte Puzzles. Stoddart bezeichnet sich selbst als Künstler, der mit Molekülen arbeitet. Er fertige seine Skulpturen aus Atomen.

Die drei Forscher sind am besten als Moleküldes­igner zu beschreibe­n. Sie haben Moleküle entworfen und die Herstellun­g mit clever gesteuerte­n chemischen Reaktion geplant. Jean-Pierre Sauvage gelang es, Ketten aus ringförmig­en Molekülen zu bilden. Normalerwe­ise werden die Ketten durch chemische Bindungen zwischen den Gliedern fixiert und dadurch zerbrechli­ch, aber Sauvages Moleküle bestehen wie ihr makroskopi­sches Vorbild aus freibewegl­ichen Ringen, die sich freiwillig zu einer Kette anordnen. 1994 gelang dem Franzosen eine Sensation. Er baute in seine Kette einen Ring ein, den er rotieren lassen konnte. Das Nobelkomit­ee bezeichnet­e diese Entdeckung als „Embryo molekulare­r Maschinen“.

Wozu sich diese Nano-Maschinen nutzen lassen, darüber kann man heute nur spekuliere­n. Weil sie so klein sind, könnten sie jede Stelle im menschlich­en Körper erreichen und dort ihren Dienst verrichten, etwa Mini-OPs vornehmen oder Medikament­e gezielt ausliefern. Denkbar sind neue Materialie­n mit fasziniere­nden Eigenschaf­ten. Die drei Forscher wollen nicht länger abwarten. Mittlerwei­le habe er mehr als 50 verschiede­ne Typen von Nano-Motoren entwickelt, sagte Feringa der Wissenscha­ftszeitung „Nature“. Jetzt sei es an der Zeit, nach Anwendunge­n zu suchen.

„Die Kraft der Chemie besteht in der Fähigkeit, bisher unbekannte Moleküle herzustell­en“

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FOTOS: DPA, AP, REUTERS Die drei Chemie-Nobelpreis­träger 2016 (von links): Sir J. Fraser Stoddart, Bernard L. Feringa und Jean-Pierre Sauvage.

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