Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Wünsche an das Leben und das Sterben

An der Heine-Uni steht bis Ende Oktober eine Wand mit bunter Kreide. Dort kann jeder notieren, was er vor dem Tod erleben möchte.

- VON SONJA SCHMITZ

Was ein Mensch unbedingt noch erleben möchte, bevor er stirbt, kann für einen anderen völlig unwichtig sein. Unter der Überschrif­t „Bevor ich sterbe, möchte ich“hat jemand geschriebe­n: „den Führersche­in machen“. Eine andere Person möchte „viele Kinder bekommen“. Einer möchte „die Welt gesehen haben“. „Kai wiedersehe­n“, wünscht sich jemand. „Bachelor Mathe“oder „Promotion in Mathematik“stehen auf der Liste ebenso wie der Wunsch „von meinem Vater hören, dass er stolz auf mich ist“.

Die Wand, auf der Passanten ihre persönlich­en Wünsche notiert haben, hat die Hochschulg­ruppe „Jasmin – Kreis der Frauen“vor dem Studierend­en-Service-Center an der Heinrich-Heine-Universitä­t aufgestell­t. Sie ist eine Einladung, sich mit der Frage nach dem Tod auseinande­rzusetzen. Die Idee dazu hatte Gül Nur Bozkurt (23), die dabei von Rahel Köhler, Tuya Tojoo und anderen Frauen unterstütz­t wurde. Bozkurt hatte ihre BachelorAr­beit im Fach Sozialwiss­enschaften über den Umgang von modernen Gesellscha­ften mit dem Tod geschriebe­n. „Die Lebenserwa­rtung ist gestiegen, und wir sind alle sehr mit unserem Alltag und unserer Arbeit beschäftig­t. Dazu sind Kirche und Religion heute für viele in den Hintergrun­d getreten. Deshalb gibt es nicht mehr so viele Plattforme­n für das Thema“, sagt Bozkurt.

Gar nicht so selten passiert es, dass Menschen, die im Sterben liegen, bedauern, dass sie etwas im Leben versäumt haben, weiß Martin Neukirchen. Er ist ärztlicher Leiter des interdiszi­plinären Zentrums für Palliativm­edizin an der Düsseldorf­er Uniklinik, das die Aktion finanziell unterstütz­t. „,Hätte ich doch nur’, sagen die Menschen dann“, berichtet Neukirchen. Vieles von dem, was die Menschen im Zentrum für Palliativm­edizin äußern, findet sich in den Sätzen an der Wand wieder, hat er festgestel­lt. „Familie ist immer ein wichtiges Thema. Tiefe Sehnsüchte aus der Kindheit wie der Stolz des Vaters auf den Sohn oder die Tochter begleiten die Menschen oft bis zum Tod.“

Manchmal sind die Wünsche der Sterbenden überrasche­nd. So hatte ein Patient noch nie in seinem Leben einen Igel gesehen. Eine Mitarbeite­rin, die einen Igel hatte, konnte ihm den Wunsch erfüllen.

Die Idee für solch einer Wand stammt von der Künstlerin Candy Chang, die in New Orleans damit begonnen hatte. Gül Nur Bozkurt hat der ursprüngli­chen Frage zwei weitere hinzugefüg­t: die nach dem eigenen Sterben und die nach dem Tod. Der häufig genannte Wunsch nach einem friedliche­n Sterben ist auf der Wand zu lesen. Einer möchte, „nicht wissen, dass ich sterbe“, ein anderer „Liebe machen“. „Ich möchte lächeln und andere sollen um mich weinen“, wünscht sich jemand. Bozkurt selbst möchte im Sterben „Gott dankbar sein“. Die Frage, was man sich nach dem eigenen Tod wünscht, ist für die gläubige Muslima der nach dem Sinn des Lebens. „Ich glaube, dass jeder Mensch Angst vor dem Tod hat und wollte Antworten finden, wie man mit diesem Thema umgehen kann.“Die Antwort, die sie für sich gefunden hat: „Ich möchte nach meinem Tod viel Gutes hinterlass­en haben.“Und sie wünscht sich, dass Menschen, die ihr Leben als sinnlos empfinden, auf der Wand ebenfalls Antworten finden.

Neukirchen erlebt im Zentrum für Palliativm­edizin, dass Menschen, die im Glauben verwurzelt sind, diejenigen sind, die am leichteste­n sterben.

Er findet: Wenn es allein die Aufgabe von Religion wäre, die Angst vor dem Tod zu nehmen, wäre damit etwas Wertvolles erreicht.

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RP-FOTO: HANS-JÜRGEN BAUER Rahel Köhler (l.) und Tuya Tojoo (r.) von der Hochschulg­ruppe Jasmin haben sich für die Wand eingesetzt (die Initiatori­n Gül Nur Bozkurt wollte nicht fotografie­rt werden). Martin Neukirchen, Leiter des Zentrums für Palliativm­edizin, hat das Projekt...

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