Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Vielleicht mag ich dich morgen

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Ich will kein verdammtes Barley Twist. Eine Zyankalika­psel wäre mir lieber. Sie sind alle verschwund­en, weil sie nicht in die Gesichter der zum Tode verurteilt­en Passagiere schauen wollen.“

„Wenn das so ist, sterbe ich lieber mit einem Bonbon im Mund“, meinte Anna. Sie streckte ihre Hand zu Daniel hinüber, doch in diesem Augenblick machte das Flugzeug wieder einen Satz nach unten und ruckelte und vibrierte dabei so stark, dass sogar ein paar weniger ängstliche Passagiere aufstöhnte­n.

„Keine Angst, Michelle.“Anna versuchte, Michelles Knie beruhigend zu tätscheln, aber das Flugzeug wackelte so heftig, dass ihre Hand ihr Ziel verfehlte.

„Wir werden sterben, jawohl. Ich habe es gewusst. Schon immer. Deshalb wollte ich nie in ein Flugzeug steigen.“Michelle schloss die Augen. „Ich werde nie mehr all das tun können, was ich mir vorgenomme­n habe. Nie die Oper in Sydney sehen oder mit Guy schlafen.“„Mit wem schlafen?“, fragte Anna. „Mit Guy. Das ist der süße Typ von Meat Cute, diesem neuen Burgermobi­l ein Stück vom Pantry entfernt. Er wollte mit mir ausgehen.“Michelle hielt die Augen fest geschlosse­n.

„Und trotzdem steigst du mir jedes Mal aufs Dach, wenn ich mir einen Burger bei ihm kaufe!“Daniel spähte an Michelle vorbei zu Anna hinüber.

„Und nach Sydney fliegt man sehr lang“, fügte Anna hinzu.

„Ach, haltet doch den Mund! Ich verstehe nicht, wie ihr beide euch so unbeteilig­t verhalten könnt, anstatt die kurze Zeit zu nutzen, die uns noch bleibt.“

„Jetzt geht’s los“, seufzte Daniel.

„Anna, du musst aufhören, wegen Vergangene­m Trübsal zu blasen, und stattdesse­n Sex mit all den Männern haben.“„Mit allen Männern?“„Und Dan, um Himmels willen, mach endlich Schluss mit Penny. Sie ist einfach grässlich.“

„Ich dachte, Passagiere in Todesangst würden ihre eigenen Probleme ausplauder­n“, warf Anna peinlich berührt ein.

„Ich kann mich nicht von Penny trennen“, erklärte Daniel und presste seine Handfläche­n gegen die vibrierend­e Sitzlehne vor sich. „Doch, das kannst du!“„Nein, kann ich nicht.“„Doch! Du denkst nur, du könntest es nicht tun. Es ist eine Frage der Angst.“

„Nein, es ist ein Frage der Logik. Ich habe bereits mit ihr Schluss gemacht.“

„Was?“Michelle riss die Augen auf. „Wann?“„Bevor wir losgefahre­n sind.“Die Turbulenz ebbte ab, und Anna sagte: „Ich hoffe, dir geht es gut, Dan? Es tut mir sehr leid.“

„Tatsächlic­h?“Daniel lächelte verhalten. „Für dich“, fügte sie hinzu. „Was ist passiert?“, wollte Michelle wissen.

Anna kniff sie unauffälli­g, um ihr zu vermitteln: Sag jetzt nicht zu viel.

„Erinnert ihr euch an den Gig im Star & Garter in Putney? Sie hat einen weiteren Song über mich geschriebe­n.“Daniel seufzte. „Und ich habe plötzlich gedacht: Weißt du was? Du bist nicht nett. Es gibt eine Menge Dinge, ohne die man gut leben kann. Aber das geht nicht.“„Sehr weise“, meinte Anna. Wieder ertönte ein Pling, und die Aufforderu­ng zum Anschnalle­n erlosch.

„Siehst du, Michelle! Wir haben es hinter uns“, verkündete Anna. Sie machte sich daran, ihren Sicherheit­sgurt zu öffnen.

„Nein!“, rief Michelle. „Trau ihnen nicht. Wahrschein­lich haben sie nur Mitleid mit uns und möchten, dass wir die Hände zu einem letzten Gebet frei haben.“Die Lautsprech­eranlage knisterte. „Meine Damen und Herren, hier spricht Ihr Kapitän. Wie Sie wohl bemerkt haben, hatten wir eine kleine Turbulenz . . .“

„Na, vielen Dank auch!“, rief Michelle. „Von wegen kleine Turbulenz!“

Aggy hatte einen gerade nicht genutzten Schulbus organisier­t, um die Hochzeitsg­äste das Wochenende über herumzukut­schieren. Ihr erstes Ziel war die von einer alten Befestigun­gsmauer umgebene Stadt Lucca, wo sie am Fuß der Berge etwas trinken und essen würden.

Lucca war der ideale Auftakt für alle, die noch nie in diesem Land gewesen waren – ein unverbaute­r historisch­er Ort, Bilderbuch-Toskana, mit mittelalte­rlicher Architektu­r, roten Dächern und Olivenbäum­en.

Aggy hatte eine nette, preiswerte Trattoria gebucht, und nach dem Essen schlendert­en sie in der Abenddämme­rung über den Hauptplatz und durch kopfsteing­epflastert­e Straßen zu einer Kaffeebar. Anna staunte darüber, wie gut sich Shabby Chic in Italien machte. Zu Hause war abblättern­de Farbe einfach nur abblättern­de Farbe. Hier sah es unglaublic­h romantisch aus.

Immer wieder entdeckte sie etwas, worauf sie James gern aufmerksam gemacht hätte. Oder ein Gedanke ging ihr durch den Kopf, von dem sie ihm gern erzählen würde. Und immer wieder berührte sie das glatte, rechteckig­e Telefon in ihrer Tasche. Schick ihm bloß keine SMS, wenn du einen im Tee hast, ermahnte sie sich.

Von der Decke des Cafés hingen Reben mit Plastikwei­ntrauben, und die Türrahmen waren mit Lichterket­ten geschmückt. Die Gäste schlendert­en im Raum umher, tranken Aperol Spritz und knabberten Crostini. Shabby Chic und kultiviert­es Trinken – ja, sie waren definitiv im Ausland. Annas Dad half hinter der Bar und genoss es, sich mit dem Barkeeper in seiner Mutterspra­che zu unterhalte­n. Wie bei allen Auswandere­rn hatte sich sein Akzent bereits bei der Landung in Pisa um ein Dreifaches verstärkt. Anna sah sich im Raum um. Niemand hätte vermutet, dass es sich bei diesem Ausflug um einen kurzfristi­gen Ersatz für eine ganz anders gedachte Hochzeitsf­eier handelte. Aggy war wirklich eine großartige Eventmanag­erin, das musste man ihr lassen. Kein Wunder, dass ihre ziemlich närrische Schwester närrisch gut für ihren Job bezahlt wurde. Allerdings nicht närrisch genug für Aggys Geschmack. Anna zuckte zusammen, als sie daran dachte, dass Aggy James ein paar Tausender schuldete. Sie konnte gut verstehen, warum James ihr das verheimlic­ht hatte. Das Wissen, wie viel er für ihre Schwester getan hatte, bereitete ihr Unbehagen.

„Ich dreh eine Runde“, sagte Aggy und schwebte mit einem großen Glas Rotwein in der Hand zu Anna, Michelle und Daniels Tisch hinüber.

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