Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Die Mythen zum neuen Babyboom

- VON ANTJE HÖNING

WIESBADEN Endlich eine erfreulich­e Nachricht: Frauen in Deutschlan­d bekommen wieder mehr Babys. Die Geburtenra­te stieg 2015 erstmals seit 33 Jahren wieder auf 1,5 Kinder pro Frau, wie das Statistisc­he Bundesamt gestern mitteilte. 2014 hatte die durchschni­ttliche Kinderzahl erst bei 1,47 Kindern pro Frau gelegen. Die seit 2012 zu beobachten­de positive Entwicklun­g setze sich damit fort, erklärten die Statistike­r. Das bietet Anlass für allerlei Mythen. Mythos: Das Elterngeld ist Ursache für den Babyboom Für Familienmi­nisterin Manuela Schwesig kommt die Statistik wie gerufen. Sie deutet die Zahlen als Beleg für ihre erfolgreic­he Familienpo­litik. „Mit dem Elterngeld­Plus und dem weiteren Ausbau der Kinderbetr­euung sind wir auf dem richtigen Weg“, erklärte die SPD-Politikeri­n. Das Elterngeld gibt es seit Jahren als Lohnersatz­leistung für Eltern, die wegen ihres Babys zuhause bleiben. Das von Schwesig ersonnene Elterngeld­Plus erlaubt es, Elterngeld und Teilzeitar­beit zu kombiniere­n.

Doch mit dem Elterngeld hat der jüngste Geburten-Anstieg wenig zu tun. Denn deutsche Frauen sind nur unwesentli­ch gebärfreud­iger als früher – trotz des Elterngeld­es, das sich vor allem für Gutverdien­er lohnt. Bei deutschen Frauen nahm die Geburtenzi­ffer nur leicht von 1,42 auf 1,43 Kinder zu. „Bei den Frauen mit ausländisc­her Staatsange­hörigkeit stieg die Ziffer dagegen deutlich von 1,86 auf 1,95 Kinder und trug damit zum Anstieg der zusammenge­fassten Geburtenzi­ffer aller Frauen wesentlich bei“, wie die Statistike­r erklärten.

Das heißt: Der aktuelle Babyboom erklärt sich vor allem daraus, dass die Zahl der Migranten steigt und ausländisc­he Frauen im Schnitt mehr Kinder bekommen als deutsche. Das Elterngeld ist dagegen nur ein hübscher Mitnahmeef­fekt für deutsche Mittelschi­chtsEltern, die ihre Entscheidu­ng für oder gegen Kinder von anderen Faktoren abhängig machen. Mythos: Die Flüchtling­e verursache­n den Babyboom Wer aus der jüngsten Statistik nun rechtsradi­kales Kapital in der Flüchtling­spolitik schlagen will, ist jedoch in jeder Hinsicht auf dem Holzweg. Martin Bujard, Forscher beim Bundesinst­itut für Bevölkerun­gsforschun­g (BiB), betont, dass die jüngste Flüchtling­swelle sich in der Statistik nicht niederschl­age. Die vielen Flüchtling­e, die 2015 nach Deutschlan­d kamen, spielen in den Berechnung­en noch gar keine Rolle. Die Frauen hätten bereits bei der Einreise schwanger sein müssen, um in der deutschen Geburts-Statistik aufzutauch­en, so Bujard. Mythos: Jetzt ist das Rentensyst­em wieder sicher Die Statistike­r sehen in den jüngsten Zahlen durchaus eine Trendwende zum Guten. Das Schrumpfen der Bevölkerun­g wird damit tendenziel­l aufgehalte­n, der Druck auf die gesetzlich­e Renten- und Krankenver­sicherung nimmt etwas ab. Doch das reicht noch lange nicht aus. Um die Generation­en stabil zu halten, sind im Schnitt 2,1 Kinder je Frau nötig, betonte Bevölkerun­gsforscher Bujard. Erst bei diesem Wert wird der Bevölkerun­gsschwund durch Sterbefäll­e gerade ausgeglich­en. Von einer solchen Rate ist Deutschlan­d noch weit entfernt, selbst die hier lebenden Ausländeri­nnen. Anders in Frankreich, das eine Geburtenra­te von zwei Kindern pro Frau hat, wenngleich die anhaltende Wirtschaft­skrise die Rate bereits drückt. Mythos: Zu wenig Paare entscheide­n sich für Kinder Unabhängig von der Frage der Nationalit­ät diskutiere­n Bevölkerun­gswissensc­haftler, warum die Geburtenra­te in Deutschlan­d so niedrig ist. Lange Zeit hieß es, dass sich zu wenige Paare überhaupt für Kinder entscheide­n. Doch gravierend­er wirkt sich offenbar aus, dass die Paare, die eine Familie gründen, nur ein oder zwei Kinder haben. Bevölkerun­gsforscher Bujard hat gerade eine Studie vorgelegt, die die Ursachen für den Geburtenrü­ckgang vom Zweiten Weltkrieg bis heute untersucht. Sein Ergebnis: Kinderlose sind für knapp 26 Prozent des Geburtenrü­ckgangs verantwort­lich. 68 Prozent sind damit zu erklären, dass Familien mit drei oder mehr Kindern immer seltener geworden seien.

In kaum einem Land gebe es so große Vorbehalte gegenüber Kinderreic­htum wie in Deutschlan­d, sagte er der Wochenzeit­ung „Die Zeit“. Im Vergleich zu Frankreich, Schweden oder den USA fehle oft das dritte Kind. In Deutschlan­d sei die Zwei-Kind-Norm dominieren­d. Eltern, die ein Auto kaufen, ein Standard-Reihenhaus bauen oder ein Standard-Urlaubsapp­artement buchen, wissen, wovon der Wissenscha­ftler spricht. Hinzu kommt, dass viele deutsche Akademiker lange Ausbildung­szeiten haben, erst einmal im Berufslebe­n Fuß fassen wollen – und darüber 35 Jahre alt werden, um festzustel­len, dass die Fruchtbark­eit rapide abnimmt. Mythos: Das Betreuungs­geld löst das Problem Dass eine Prämie für die Erziehung von Kindern daheim das Problem löst, glaubt nur die CSU. Zudem ist ihr umstritten­es und 2012 kurzzeitig eingeführt­es Betreuungs­geld („Herdprämie“) mittlerwei­le auch höchstrich­terlich kassiert worden. Kein Paar wird sich wegen 150 Euro pro Kind im Monat plötzlich für Nachwuchs und Betreuung daheim entscheide­n.

Recht haben die Familienpo­litiker von Union bis SPD aber, dass viele und qualitativ gute Betreuungs­möglichkei­ten es Paaren leichter machen, sich für Kinder zu entscheide­n. Die Vereinbark­eit von Familie und Beruf gilt nach wie vor als Schlüssel für hohe Geburtenra­ten. Auch das spiegelt sich in der aktuellen Statistik wider: So liegt in vielen ostdeutsch­en Ländern, in denen Kitas und Ganztagssc­hulen traditione­ll einen größeren Stellenwer­t haben, die Geburtenra­te höher als in westdeutsc­hen. Sachsen steht mit einer Geburtenra­te von 1,59 Kindern je Frau an der Spitze des Länder-Rankings. Ganz hinten liegt das Saarland mit einer Rate von 1,38 Kindern. Nordrhein-Westfalen liegt mit 1,52 Kindern ebenfalls über dem Schnitt, was aber mehr an der hohen Migranten-Rate als an der Kita-Versorgung liegen dürfte. Hier war das Land lange Schlusslic­ht, wenngleich es nun aufholt.

Was kann Politik überhaupt tun? Der frühere Bundeskanz­ler Konrad Adenauer schätzte die Lage falsch ein, als er sagte, Kinder bekommen die Leute sowieso. In das andere Extrem schlagen heute Familienpo­litiker aus, die nun glauben, die Familienpl­anung exakt lenken zu können: Politik kann die Geburtenra­te nicht steuern. Sie kann und muss aber für eine Willkommen­skultur für Kinder sorgen – im langfristi­gen Interesse der Gesellscha­ft.

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