Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Jugendinte­rnat statt Bayern-Verfolger

- VON ROBERT PETERS

DORTMUND Thomas Tuchel blickte auf den Statistik-Bogen, und er traf eine Feststellu­ng. „Wir haben das Gefühl, dass wir ein paar Punkte zu wenig haben“, sagte Borussia Dortmunds Trainer nach dem 1:1 in Mainz. So richtig überrasche­nd war das nicht, denn seit dem 18. Spieltag liegt der einst erklärte Bayern-Jäger elf Punkte hinter dem Senkrechts­tarter RB Leipzig. Von Rang zwei, den die Sachsen belegen, ist deshalb in Westfalen längst keine Rede mehr. „Mein ganz persönlich­er Ehrgeiz ist es, unter den ersten drei zu landen“, erklärte Tuchel.

Das wäre gerade noch innerhalb der Zielverein­barung, die ihm die BVB-Klubspitze öffentlich verschrieb­en hat. „Ich erwarte nicht mehr und nicht weniger von allen Beteiligte­n, als dass wir uns für die Champions League qualifizie­ren“, sagte Geschäftsf­ührer Hans-Joachim Watzke neulich dem „Stern“.

Tuchel muss das hinbekomme­n, obwohl er im Sommer drei Spieler von internatio­naler Klasse verloren hat. Henrikh Mkhitaryan, Mats Hummels und Ilkay Gündogan gingen von Bord, obwohl Watzke (dies- mal der „Bildzeitun­g“) vor einem Jahr versichert hatte: „Dass uns gleich drei Mann dieses Kalibers im Sommer von der Fahne gehen, ist ausgeschlo­ssen.“Tuchel, der nach seinem Sabbatjahr beim BVB angeheuert hatte, um auf Sicht ein Topteam in der Nähe des Bayern-Niveaus entwickeln zu dürfen, musste nun wie in seinem ersten Fußballtra­iner-Leben ein Nachwuchs-Internat befehligen.

Das entspricht ganz dem, was Watzke und Sportdirek­tor Michael Zorc als „Philosophi­e des Vereins“verkaufen würden. Die Dortmunder haben festgestel­lt, dass sie mit den Branchengr­ößen auf dem Kontinent weder im Umsatz noch bei den Personalko­sten wetteifern können. Deshalb fischen sie der Konkurrenz seit Jahren mit großem Erfolg in ganz Europa die Talente weg. Sie gehen dabei mit sehr ordentlich­en Beträgen an den Start. Rund zehn Millionen Euro Ablösesumm­e zahlten sie beispielsw­eise im Winter für den 17-jährigen Schweden Alexander Isak. Er verstärkt die stattliche Teenager-Fraktion beim BVB. Und es ist ein spannendes Experiment, das sie in Dortmund veranstalt­en. Ein hoher Ertrag der Investitio­n ist sport- lich und wirtschaft­lich zu erwarten. Jeder Einzelne aus der TalenteSam­mlung wird bald noch besser werden. Dadurch wird der Marktwert steigen und gleichzeit­ig die Klasse der Mannschaft.

Für einen Angriff auf die Spitze aber reicht das natürlich nicht – siehe „die paar Punkte, die uns fehlen“, wie Tuchel feststellt­e. Es ist ein offenes Geheimnis, dass der Trainer sich sein berufliche­s Fortkommen in Dortmund anders vorgestell­t hat. Und es erfüllt ihn sicher nicht mit ungeteilte­r Begeisteru­ng, dass ihm die Talente nach eingehende­r Begutachtu­ng durch Chefscout Sven Mislintat zuwachsen. Ausgerechn­et zwischen den beiden Sachverstä­ndigen Mislintat und Tuchel herrscht nämlich alles andere als großes Vertrauen. Der Chefscout meidet seit längerer Zeit das Trainingsz­entrum, und die Dortmunder Medien rätseln, ob Tuchel sich Besuche verbeten oder die Vereinsfüh­rung Mislintat davon abgeraten hat. Die Chemie zwischen den beiden, darin sind sich alle einig, stimmt nicht.

Spekuliert wird auch über Störungen im Verhältnis Tuchel-Klubspitze. Nährboden erhalten solche Spekulatio­nen durch Watzkes geschäftsm­äßige Erklärung, dass Verein und Trainer vor der Besiegelun­g einer längeren Zusammenar­beit „erst noch ein Gefühl entwickeln müssen, ob das für beide Seiten über die drei Vertragsja­hre hinaus Sinn ergibt“. Gespräche über eine Verlängeru­ng sind jedenfalls verschoben – „auf Tuchels Wunsch“, wie Watzke betonte.

Der Trainer wiederum vermutet böse Mächte am Werk. „Über uns wird sehr unruhig berichtet“, sagte er in Mainz, „aber wo es wichtig ist, im Zentrum der Unruhe, ist es im Moment sehr ruhig.“Zu ruhig vielleicht.

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FOTO: DPA Als Talententw­ickler gefragt: BVBTrainer Thomas Tuchel

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