Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
Die Diamanten von Nizza
So schlecht hatte er sich danach noch nie gefühlt, auch wenn dem Rausch immer die Ernüchterung, das Einsacken, folgte. Aber er hatte es in den letzten Monaten auch nie allein geschnupft, immer nur zusammen mit der Signora. Dieses verfluchte Rugby! Eine Niederlage, ja und, wie konnte man das so ernst nehmen? Im Geiste kehrte er in das Jahr 1998 zurück. Damals war er in den Zwanzigern gewesen. Er hatte bei den Amateuren von RRC Nice gespielt. Lydie, seine braunhaarige Freundin, ein Jahr jünger als er und einen Kopf kürzer, hatte oft am Spielfeldrand gestanden und ihm bewundernd zugeschaut, wenn er im Gedränge wuselte und bei seinen Teamkameraden die Gasse gewährleistete. Dann war diese Fußballweltmeisterschaft gekommen, niemand sprach mehr von Rugby, alle nur noch vom Fußball, und als Frankreich auch noch das Endspiel gewann, Weltmeister wurde, weil der beste Mann der gegnerischen Mannschaft, die in den Spielen zuvor den viel besseren Eindruck gemacht hatten, plötzlich Anfälle bekommen hatte und als Schatten seiner selbst auflief, war es ganz aus gewesen: Rugby, was für ein komischer Sport, sagten viele Leute plötzlich. Im Fernsehen gab es kaum noch Übertragungen. War es Zufall gewesen, dass der Typ, dessentwegen, Lydie ihn verlassen hatte, in einem Fußballclub war? Er hatte auch eine bessere Ausbildung, war Techniker, so viel hatte er noch mitbekommen. Dass Lydie ihn verlassen hatte, hatte ihn völlig aus der Bahn geworfen. Kurz danach hatte er sich ein Innenband des Knies bei einem Spiel gerissen, und danach war es nie mehr wie früher gewesen. Und jetzt diese Niederlage von RCC, die eh nicht mehr Meister werden konnte. Verdammt. Unten wieder ein Geräusch, diesmal ein Klimpern. Jacques bekam es mit der Angst, aber sein Pflichtgefühl befahl ihm nachzusehen, obwohl er kaum aufstehen konnte. Er war langsam die Treppe hinuntergeschlichen, wobei er das Gefühl hatte, sein Körper würde ihm nur schlecht gehorchen, so unsicher war er auf den Beinen, bis er den Eingangsbereich sehen konnte: Eine Person in Mantel und Kapuze huschte mit einer dicken Tasche in der Hand vorbei, öffnete die Tür und ging hinaus, als wäre dies das Normalste von der Welt. Die Umrisse dieser Gestalt passten zu niemanden, den er kannte. Jacques wusste nicht einmal, ob es ein Mann oder eine Frau war. Er wollte Halt rufen, brachte aber in seiner Betäubung keinen Ton hervor. Jacques schlich hinterher durch die noch halb offene Haustür, vergewisserte sich, dass er den Schlüssel in der Hosentasche hatte. Er folgte im Abstand von zwanzig Schritt dem Taschenträger, der plötzlich innehielt, etwas in seiner Manteltasche zu suchen schien. Jacques versteckte sich gerade noch rechtzeitig hinter einem Pflanzenkübel. Er holte sein Handy heraus, er müsste die Polizei anrufen, unbedingt. Aber das würde diese Person da merken, wenn er jetzt zu reden anfinge. Jacques hatte das Gefühl, keinen klaren Gedanken fassen zu können. Er stand neben sich. In seiner Ratlosigkeit hielt Jacques einfach das Handy nach vorn und drückte auf Videokamera. Jetzt hatte die verdächtige Person in ihrer Manteltasche gefunden, was sie gesucht hatte, offenbar einen Schlüssel, und ging weiter, durchs Gittertor auf die Promenade hinaus. Er folgte, jetzt einer unter vielen Passanten. Er hielt immer noch das Handy nach vorne gerichtet. Die Person blieb vor einem roten Fiat stehen, Jacques ging weiter, bis er wenige Schritte vor ihr stand. Er hielt sein Handy wie ein Tourist auf die Bucht hinaus, als suche er nach der optimalen Perspektive für einen Ferienschnappschuss. Eine Wagentür wurde aufgesperrt, die Person schien ihn überhaupt nicht wahrzunehmen und in diesem Moment lenkte er das Handy in die andere Richtung und hatte ein ausdrucksloses, starres Gesicht für einen Moment gefilmt. Er kannte diese Person nicht, definitiv nicht. Er starrte wieder auf die Bucht hinaus, ganz im Stil eines Touristen. Der Wagen fuhr fort, und Jacques war noch so geistesgegenwärtig, das Kamerabild auf das Nummernschild am Heck zu lenken. Er drückte auf Stopp. Als er wieder im Haus war, überlegte er, ob er im Keller, im Salon nachsehen sollte, was entwendet worden war. Nein, nichts anrühren, den Tatort meiden, er müsste die Polizei anrufen, aber die würden merken, in welchem Zustand er war, er fühlte sich völlig überfordert, wie zerschmettert, zu nichts in der Lage, und schlich wieder in seine Klause hoch, wo er sich aufs Bett legte und bald wieder wegdöste.
Er wusste nicht, wie viel Uhr es war, als er von aufgeregtem Geschrei wach wurde, das sich nicht ignorieren ließ. Zögernd ging er die Treppe hinunter. Die Castellacis fluchten, durchbohrten ihn mit Fragen, warum er nichts gemerkt habe, Ettore drohte mit Kündigung.
Am nächsten Morgen kam die Signora zu ihm hoch. Sie sah ihn vorwurfsvoll und fragend an. Er spürte, dass er in ihrer Achtung ge- sunken war, er, ein Hüne von einem Mann, groß, stark, mit breiten Schultern, hatte einfach geschlafen, während unten der Safe ausgeräumt wurde. Er zeigte ihr den Film, den er mit der Handykamera aufgenommen hatte. Als für einen kurzen Moment das Gesicht der Person mit der großen Ledertasche, wie sie früher Hausärzte hatten, zu erkennen und das Autonummernschild zu entziffern war, pfiff Marcella Castellacci anerkennend und befahl ihm, die Aufnahme auf ihren Apparat zu schicken und dann zu löschen. Sie schärfte ihm ein, niemandem auch nur das Geringste davon zu sagen. „Ihre Aufnahmen sind Gold wert, und Sie werden gebührend davon profitieren“, sagte sie nur. Und wie zur Bekräftigung nahm sie sein Gesicht in ihre Hände und küsste ihn auf die Lippen.
Als sie die Filme der Außenkamera überprüften und merkten, dass die Überwachungsanlage zum Zeitpunkt von Jacques Erwachen schon ausgeschaltet worden war, gelang es der Signora, ihren Gatten davon zu überzeugen, dass es für sie besser sei, den Sommelier ganz aus der Sache herauszuhalten. Ettore war alles recht, was half, möglichst schnell die Versicherung zum Schadensersatz zu veranlassen. Dienstpersonal, das während der Tatzeit anwesend, aber offenbar eingeschlafen war und nicht eingeschritten hatte, konnte nur lästige Fragen und Verzögerungen bewirken, da stimmte er seiner Gattin zu. Jacques wurde für drei Tage und Nächte, bis die Polizei ihre Nachforschungen vor Ort fürs Erste abgeschlossen hatte, in ein Hotel geschickt, sein Zimmer als Hobbyraum des Hausherrn deklariert. (Fortsetzung folgt)