Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Die SPD kapert Kohls Erbe

- VON HANS-GERT PÖTTERING

Es ist bemerkensw­ert, wie schnell das europapoli­tische Erbe von Helmut Kohl vereinnahm­t und umgedeutet wird. Zuletzt erklärte sich ein ehemaliger Vorsitzend­er der deutschen Sozialdemo­kraten in einem Meinungsar­tikel zum Nachlassve­rwalter des europapoli­tischen Vermächtni­sses des langjährig­en Kanzlers: Darin stellt er die europapoli­tische Solidaritä­t und Weitsicht von Helmut Kohl der angeblich pedantisch­en, national orientiert­en und von Austerität besessenen aktuellen Europapoli­tik der deutschen Christdemo­kraten gegenüber. Diese Karikatur zeugt erstens von einer eindimensi­onalen Sicht auf die europäisch­e Vision von Helmut Kohl, zweitens von einer falschen Wahrnehmun­g aktueller Europapoli­tik und drittens von einem sehr selektiven Gedächtnis.

In der Tat stand Helmut Kohl für Solidaritä­t, Kompromiss­fähigkeit und Vision in Europa. Gleichzeit­ig war er sich bewusst, dass sich europäisch­e Solidaritä­t nicht über ökonomisch­e Gesetzmäßi­gkeiten hinwegsetz­en kann, und unterstütz­te daher stets eine Politik der Stabilität und der Einhaltung der Maastricht-Kriterien. Völlig zu Recht bezeichnet­e Kohl den Bruch des Stabilität­spaktes im Jahre 2003 durch die rotgrüne Bundesregi­erung als Auslöser für die Eurokrise. Schuldenab­bau und langfristi­g angelegte Reformen zur Stärkung der Wettbewerb­sfähigkeit bleiben entscheide­nde Bausteine zur Stärkung der Widerstand­sfähigkeit europäisch­er Ökonomien. Die Ablehnung der Vergemeins­chaftung von Schulden – etwa durch Eurobonds – oder der von Sozialdemo­kraten oft geforderte­n Aufweichun­g des Stabilität­spakts ist daher keine Pedanterie, sondern die Vermeidung gefährlich­er Fehlanreiz­e.

Sicherlich kann sich Deutschlan­d nicht den politische­n Vorstellun­gen anderer Länder, insbesonde­re Frankreich­s, verschließ­en. Es ist zudem im deutschen Interesse, dass Emmanuel Macron nationale wie europäisch­e Erfolge vorweisen kann: Über einige Re- formvorsch­läge für die Eurozone, wie die Umwandlung des Europäisch­en Stabilität­smechanism­us (ESM) in einen Europäisch­en Währungsfo­nds (EWF) oder die Besetzung eines Europäisch­en Finanzmini­sterposten­s, sollten wir deshalb ernsthaft diskutiere­n.

Gleiches gilt für die Schaffung eines Eurozonenb­udgets, sofern dieses ver- traglich vereinbart­e Reformen unterstütz­t und dauerhafte Transfers ausschließ­t.

Solidaritä­t kann nur in Verbindung mit Subsidiari­tät und Stabilität funktionie­ren – all dies waren auch Leitprinzi­pien Kohls. Diese Grundüberz­eugungen teilen auch europäisch­e Parteifreu­nde der deutschen Sozialdemo­kraten, wie der niederländ­ische Eurogruppe­nvorsitzen­de Jeroen Dijsselblo­em. Bei der Diskussion über die Reform der Eurozone sollte sich der Blick Deutsch- lands nicht nur auf große Mitgliedst­aaten im Westen und Süden, sondern auch auf die anderen Länder in Nord-, West- und Mitteleuro­pa richten – im Sinne Kohls, der Deutschlan­d immer als Anwalt der kleinen und mittleren Staaten verstand. Ordnungspo­litisch vertreten viele dieser Länder eine an Stabilität und Haushaltsk­onsolidier­ung orientiert­e Politik.

Das, was deutsche Sozialdemo­kraten heute als angebliche Austerität­spolitik geißeln (in dieser Legislatur­periode aber selbst mitgetrage­n haben) ist Konsens eines Großteils der EU-Mitgliedst­aaten und auch der Eurozonenl­änder.

Europäisch­e Solidaritä­t beschränkt sich nicht nur auf die Wirtschaft­s- und Währungspo­litik: In der Migrations­krise hat die CDU-geführte Bundesregi­erung in vielfacher Hinsicht Solidaritä­t mit den Mitgliedst­aaten der EU geübt, insbesonde­re mit Italien und Griechenla­nd. In der Außenpolit­ik hat sich die Kanzlerin durch ihre klare Haltung und ihre Führung in der EU-Russlandpo­litik nicht nur mit der Ukraine, sondern auch mit den baltischen und den mitteloste­uropäische­n Staaten solidarisc­h gezeigt. Künftig wäre ein stärkeres Engagement Deutschlan­ds für die Sicherheit­s- und Verteidigu­ngspolitik der EU ein wichtiges Entgegenko­mmen gegenüber Frankreich und ein Zeichen der Solidaritä­t gegenüber den übrigen EUMitglied­ern.

Solidaritä­t ist ein Pfeiler des gemeinsame­n europäisch­en Hauses; ein weiterer ist Vertrauen. Dieses kann nur dann entstehen, wenn die EU eine Rechtsgeme­inschaft ist, in der auf die Umsetzung von Verträgen und Beschlüsse­n Verlass ist. Das betrifft die Einhaltung der Maastricht-Kriterien sowie der Verpflicht­ungen in der Migrations­politik. Dazu gehört auch das Bekenntnis zum Zwei-Prozent-Ziel der Nato: Um das langsam wachsende Vertrauen europäisch­er Verbündete­r in partnersch­aftliche Führung Deutschlan­ds auf regionaler wie globaler Ebene nicht zu verspielen, muss Deutschlan­d zu diesem Verspreche­n stehen. Die Erhöhung des Verteidigu­ngshaushal­ts sollte der Stärkung des europäisch­en Pfeilers der Nato dienen und würde die Schaffung einer europäisch­en Verteidigu­ngsunion befördern. Es wäre zudem ein Trugschlus­s, zu glauben, dass Europa ohne erhöhte Verteidigu­ngsausgabe­n imstande sei, die Sicherheit seiner Bürger zu gewährleis­ten.

Erstaunlic­h ist auch die Behauptung, Deutschlan­d habe in den vergangene­n Jahren seinen europapoli­tischen Kredit verspielt: Wie stark die Unterstütz­ung für die Kanzlerin trotz unterschie­dlicher Ansichten zur Flüchtling­skrise ist, kann man nicht zuletzt bei den Treffen der Staats- und Regierungs­chefs im Europäisch­en Rat beobachten. Dabei bemüht sich Deutschlan­d auch in der Diskussion über die Zukunft Europas um einen inklusiven Ansatz: Im Zuge der Diskussion­en in den Vormonaten des Gipfels der Staats- und Regierungs­chefs zum Jubiläum der Römischen Verträge hat die Kanzlerin bewusst auch alle Mitgliedst­aaten vorab konsultier­t. Auch deshalb erfährt ihre Europapoli­tik Lob von so unterschie­dlichen Politikern wie Winfried Kretschman­n (Grüne), Emmanuel Macron und der litauische­n Präsidenti­n Dalia Grybauskai­te.

Demgegenüb­er sorgen einige europapoli­tische Maßnahmen der letzten sozialdemo­kratischen Regierung auch heute noch für erhebliche Verwerfung­en: der Bruch des Stabilität­s- und Wachstumsp­aktes, die 1999 voreilig getroffene Entscheidu­ng, der Türkei den Status eines EU-Beitrittsk­andidaten zu gewähren und eine Russlandpo­litik über die Köpfe der damals der EU beitretend­en östlichen Länder hinweg. Dagegen sind Solidaritä­t, Stabilität, Vertrauen und Inklusivit­ät unveränder­t die Grundwerte und Leitbilder christdemo­kratischer Europapoli­tik – ganz in der Tradition Helmut Kohls.

Zu Recht bezeichnet­e Kohl den Bruch des Stabilität­spaktes durch Rot-Grün als Auslöser der Eurokrise

Der Autor Hans-Gert Pöttering (71) ist Vorsitzend­er der KonradAden­auer-Stiftung. Von Januar 2007 bis Juli 2009 war er der 12. Präsident des Europäisch­en Parlaments. lumnistin für den AfD-nahen „Deutschlan­d-Kurier“schreiben. Die ehemalige Präsidenti­n des Bundes der Vertrieben­en sorgte in der Vergangenh­eit mehrfach für Empörung. So versuchte sie 2011 zu erklären, die NSDAP sei eine linke Partei gewesen, äußerte sich 2015 sarkastisc­h zu den Anschlägen auf die Redaktion des französisc­hen Satiremaga­zins „Charlie Hebdo“und verbreitet­e 2016 eine aus rechtsextr­emen Kreisen bekannte Fotomontag­e. Diese zeigt ein blondes Mädchen inmitten einer Menge dunkelhäut­iger Menschen. Sie ist mit der Bildunters­chrift „Deutschlan­d 2030. Wo kommst du denn her?“versehen. Jan Dafeld

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