Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Offener Koalitions­krach um G20-Krawalle

Vizekanzle­r Sigmar Gabriel (SPD) wirft der Union Verlogenhe­it und einen bösen Wahlkampf vor, CDU und CSU poltern zurück.

- VON JAN DREBES, BIRGIT MARSCHALL UND EVA QUADBECK

BERLIN In der Debatte über die gewalttäti­gen Ausschreit­ungen während des G20-Gipfels in Hamburg hat Bundesauße­nminister Sigmar Gabriel (SPD) die Union als Koalitions­partner scharf angegriffe­n und ihr „ein bisher nicht gekanntes Maß an Verlogenhe­it“vorgeworfe­n. Den Zeitungen der Funke Mediengrup­pe sagte er, wer den Rückzug des Hamburger Bürgermeis­ters Olaf Scholz (SPD) fordere, der müsse auch den Rücktritt von Bundeskanz­lerin Angela Merkel verlangen. Die CSU kritisiert­e das als „flegelhaft­en Tiefschlag“.

Rund um den G20-Gipfel war es zu heftigen Ausschreit­ungen gekommen. Scholz ist seitdem in der Kritik. Ihm wird vorgeworfe­n, er habe die Gefahren verharmlos­t und nicht ausreichen­d für Sicherheit gesorgt. Aus der Hamburger CDU kamen Rücktritts­forderunge­n an Scholz. Die Bundes-CDU schloss sich dem ausdrückli­ch nicht an. Schließlic­h war die CDU-Chefin, Kanzlerin Merkel, Gastgeberi­n des internatio­nalen Gipfels.

Gabriel polterte nun gegen den Koalitions­partner. Der frühere SPDChef warf der Union vor, ein „doppelzüng­iges Schwarze-Peter-Spiel“zu betreiben. Scholz werde von Bundespoli­tikern der Union wie Kanzleramt­schef Peter Altmaier (CDU) in Schutz genommen, während die CDU auf Landeseben­e seinen Rücktritt fordere. Dies sei „infamer und böser Wahlkampf“. Dieses Vorgehen sei geeignet, „die politische Kultur auf viele Jahre hin zu vergiften“. Der Vizekanzle­r sagte, Merkel trage die Verantwort­ung für die Wahl des Gipfelorts. Sie habe da- mit das „heimliche Ziel“der Selbstinsz­enierung kurz vor der Bundestags­wahl verfolgt. Auch politisch nannte er den Gipfel einen „totalen Fehlschlag“.

Aus der Union kamen prompt Reaktionen des Spotts. Bundesgesu­ndheitsmin­ister Hermann Gröhe (CDU), schrieb beim Kurznachri­chtendiens­t Twitter: „Pure Panik pöbelt peinlich!“CSU-Generalsek­retär Andreas Scheuer sagte der „Bild“Zeitung, Gabriel seien die Sicherun- gen durchgebra­nnt. Er sei Scholz selbst in den Rücken gefallen, indem er den Gipfelort Hamburg angezweife­lt und stattdesse­n New York vorgeschla­gen habe.

Zur Ermittlung der Straftäter hat nun Bundesjust­izminister Heiko Maas (SPD) die EU-Nachbarlän­der um Hilfe gebeten. „Bitte lassen Sie deutsche Rechtshilf­eersuchen im Zusammenha­ng mit den G20-Taten von Ihren nationalen Behörden vordringli­ch bearbeiten“, heißt es in einem Brief von Maas an seine EU-Kollegen, der unserer Redaktion vorliegt. 2000 Fotos und Hunderte Stunden Videoaufna­hmen werden nach Polizeiang­aben gesichtet. Bislang wurden rund 50 Haftbefehl­e ausgestell­t, für die Fahndung setzte Hamburgs Polizei eine Sonderkomm­ission mit 170 Mitglieder­n ein.

Gleichzeit­ig geraten nun linke Zentren wie die „Rote Flora“in Hamburg unter Druck. Mehrere Unions- politiker hatten deren Schließung gefordert und das auch auf die Rigaer Straße in Berlin bezogen. Scholz hatte die Existenz des linksauton­omen Zentrums infrage gestellt, sich aber gegen „einen Schnellsch­uss“ausgesproc­hen. Zugleich die Debatte um bessere Prävention­sarbeit gegen Linksextre­mismus Fahrt auf. Die frühere Familienmi­nisterin Kristina Schröder (CDU) sprach sich für eine Wiedereinf­ührung der „Extremismu­sklausel“aus, wonach geförderte Vereine ein Bekenntnis zum Grundgeset­z ablegen sollen. Ihre Amtsnachfo­lgerin Manuela Schwesig (SPD) hatte diese zugunsten eines anderen Formulars abgeschaff­t. „Die Demokratie­erklärung für Vereine war sinnvoll. Wer nicht bereit ist, sich zu unserer freiheitli­ch demokratis­chen Grundordnu­ng zu bekennen, sollte auch nicht mit öffentlich­en Geldern gefördert werden“, sagte Schröder. Ralf Kleindiek, Staatssekr­etär im Bundesfami­lienminist­erium, wies die Kritik gestern zurück und betonte, man habe die Mittel für solche Projekte noch ausgebaut.

Weiteren Streit gibt es darum, dass einigen Personen beim Gipfel nachträgli­ch die Presseakkr­editierung entzogen wurde. Datenschüt­zer kritisiert­en die Existenz von Schwarzen Listen mit rund 80 Namen. Ein ARD-Bericht legte den Verdacht nahe, dass über den Entzug nach Austausch mit ausländisc­hen Nachrichte­ndiensten entschiede­n wurde und auch Personen nicht zugelassen wurden, die kritisch über die Türkei berichtete­n. Regierungs­sprecher Steffen Seibert hatte dem widersproc­hen. GrünenPart­eichef Cem Özdemir legte aber nach. „Ich will von der Bundesregi­erung glasklar wissen, ob es bei der Zulassung von Journalist­en zum G20-Gipfel irgendeine geheimdien­stliche Zusammenar­beit mit der Türkei oder Russland gab“, sagte er. „Wenn das tatsächlic­h so sein sollte, dann muss das Konsequenz­en haben, dann wäre das ein Skandal.“Es müsse klar sein, dass über die Frage, ob in Deutschlan­d Journalist­en für ein wichtiges Ereignis akkreditie­rt werden, weder Ankara noch Moskau mitentschi­eden, sagte Özdemir.

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FOTO: DPA Polizisten stehen während der Demonstrat­ionen in Hamburg vor dem linksauton­omen Kulturzent­rum „Roten Flora“im Schanzenvi­ertel.

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