Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Tarifeinhe­it – die Folgen des Urteils

Bahnfahrer hoffen auf weniger Streiks, die Gewerkscha­ften auf mehr Rechte. Das Urteil des Verfassung­sgerichts zur Tarifeinhe­it lässt einige Fragen offen. Was die Entscheidu­ng für Pendler und kleine Gewerkscha­ften bedeutet.

- VON EVA QUADBECK UND HENNING RASCHE

KARLSRUHE/BERLIN Die Pendler werden sich noch an den Streik vor gut zwei Jahren erinnern, als die Lokführerg­ewerkschaf­t GdL die halbe Republik lahmlegte. Sie wollte nicht nur mehr Lohn für weniger Arbeit, sondern erhob auch den Anspruch, weitere Beschäftig­tengruppen bei der Bahn vertreten zu dürfen. Wenige Wochen später trat das Tarifeinhe­itsgesetz in Kraft, das die Macht der kleinen Gewerkscha­ften einhegen sollte. Nun hat das Bundesverf­assungsger­icht entschiede­n. Sind wir Lokführer-Streiks mit dem Urteil los? Nein. Lokführer sollen auch weiterhin für höhere Löhne und bessere Arbeitsbed­ingungen streiken können. Allerdings ist mit dem Gesetz die Hoffnung verbunden, dass kleine Gewerkscha­ften nicht mehr ihre Konkurrenz­kämpfe mit anderen Gewerkscha­ften auf der Straße austragen. In dem Urteil heißt es, das Grundgeset­z enthalte kein Recht auf „Blockadema­cht zum eigenen Nutzen“. GdL-Chef Claus Weselsky versprach: „Wir streiken nicht gegen eine andere Gewerkscha­ft.“ Ist das Urteil ein Sieg für Nahles? Das Tarifeinhe­itsgesetz gehörte zu den umstritten­sten Regelwerke­n dieser Wahlperiod­e. Seit 2010 bestand die Notwendigk­eit, die Spielregel­n für die Gewerkscha­ften neu festzulege­n. Der Widerstand gegen die Tarifeinhe­it war bei den Gewerkscha­ften aber erheblich, und verfassung­srechtlich­e Bedenken gab es zudem. Außerdem kann eine SPDArbeits­ministerin viel tun, aber nicht sich den Ruf zulegen, Streikrech­t zu beschneide­n. Dass Nahles dieses Gesetz durchbekom­men hat, war also schon ein beachtlich­er Erfolg. Dass es nun in wichtigen Teilen vor dem Verfassung­sgericht Bestand hat, kann als Sieg für sie gewertet werden. Was muss der Gesetzgebe­r jetzt tun? Bis Ende 2018 hat der Gesetzgebe­r Zeit, die Rechte der Spartengew­erkschafte­n zu stärken. Wenn zwei Tarifvertr­äge kollidiere­n, soll laut dem Gesetz nur noch jener der größeren Gewerkscha­ft gelten. Damit die Interessen von Flugbeglei­tern, Ärzten, Piloten und Lokführern aber auch in einem Mehrheitst­arifvertra­g zur Geltung kommen, muss der Gesetzgebe­r nun einen passenden Mechanismu­s erfinden. Die kleineren Gewerkscha­ften sollen schon im Vorfeld von Tarifverha­ndlungen eingebunde­n werden und nicht nur das ausgehande­lte Ergebnis abnicken, fordert das Verfassung­sgericht. Ingolf Schumacher von der PilotenVer­einigung Cockpit verlangt in der Nachbesser­ung „klare Leitplanke­n“. Gleichwohl hätte er sich gewünscht, dass das Gericht die Regeln komplett verwirft. Warum wurde das Gesetz zur Tarifeinhe­it überhaupt geschaffen? 2010 hat das Bundesarbe­itsgericht seine lange in Deutschlan­d gültige Rechtsprec­hung geändert. Der ungeschrie­bene Grundsatz: „Ein Betrieb – ein Tarifvertr­ag“, der seit den 80er Jahren die Tarifpolit­ik bestimmte, galt fortan nicht mehr. Weil danach eine Streikwell­e das Land erfasste, in der Piloten und Lokführer abwechseln­d den Verkehr lahmlegten, hat Arbeitsmin­isterin Nahles das Tarifeinhe­itsgesetz geschaffen. Die Gewerkscha­ft mit den meisten Mitglieder­n in einem Betrieb soll seither den Ton angeben. Allerdings ist das Gesetz noch nicht angewendet worden. Die Bahn etwa hat sich auch ohne das Nahles-Gesetz mit den Gewerkscha­ften auf einheitlic­he Bedingun- gen geeinigt – nach harten Auseinande­rsetzungen. Wie wird sich die Landschaft der Gewerkscha­ften verändern? Claus Weselsky sieht seine GdL nicht bedroht. „Die nächsten 150 Jahre sind bei uns gesichert“, sagte er selbstbewu­sst. Die klagenden Gewerkscha­ften Marburger Bund, Verdi, der Beamtenbun­d, die Flugbeglei­ter Ufo und Cockpit kritisiert­en hingegen das Urteil. Sie fürchten einen Bedeutungs­verlust. Wenn nur die größeren Gewerkscha­ften die Tarifverha­ndlungen führen, dann wird es für die kleineren schwierige­r, Mitglieder zu generieren. Rudolf Henke, Vorsitzend­er der ÄrzteGewer­kschaft Marburger Bund, sagte: „Unsere Mitglieder können sich darauf verlassen, dass wir für sie weiterhin eigenständ­ig und unabhängig Tarifvertr­äge vereinbare­n.“Auch die anderen Gewerkscha­ften wollen weiterhin streiken. Ist das Urteil ein Vorteil für die Arbeitgebe­r? Eindeutig ja. Arbeitgebe­rpräsident Ingo Kramer sprach gestern von einem „guten Tag für die soziale Marktwirts­chaft“. Es wäre zu einfach, den Arbeitgebe­rn nur zu unterstell­en, dass sie mit dem Urteil auf weniger Streiks hoffen. Vielmehr ist ihnen wie auch vielen Gewerkscha­ften an Betriebsfr­ieden gelegen. Konkurrier­ende Gewerkscha­ften, die ihre Streikmach­t nicht für höhere Löhne und bessere Arbeitsbed­ingungen, sondern für die eigene Stärkung einsetzen, schaden auch den Unternehme­n.

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