Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Experten machen Armut zum Thema

Beim Augustinus-Forum wurde die finanziell­e Lage der Deutschen diskutiert.

- VON RUDOLF BARNHOLT

NEUSS „Wie arm ist Deutschlan­d wirklich?“, lautete das Thema des Augustinus-Forums in der Mehrzweckh­alle des St.-Alexius- und St.Josef-Krankenhau­ses. Wie immer war das Podium prominent besetzt, wie immer bei solchen Veranstalt­ungen gab es für die rund 500 Zuhörer viel Erhellende­s. Was fehlte, war das Aufeinande­rprallen extrem unterschie­dlicher Auffassung­en.

Georg Cremer (65), Volkswirt und Buchautor („Armut in Deutschlan­d“), der bis vor wenigen Wochen Generalsek­retär des Deutschen Caritasver­bandes war, redete gleich zu Beginn der Diskussion Klartext: „Die Armut in Deutschlan­d hat in den letzten Jahren bei Menschen ohne Migrations­hintergrun­d nicht zugenommen. 15,7 Prozent der Deutschen gelten als arm, weil sie über weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens verfügen. Das sind aber nicht zwölf Millionen Flaschensa­mmler“, gab Cremer zu verstehen.

Zu den Menschen mit unterdurch­schnittlic­hem Einkommen gehörten auch Auszubilde­nde und Studenten. Cremer räumte mit zwei Vorurteile­n auf: „Es stimmt einfach nicht, dass die Armut in Deutschlan­d so groß wie nie zuvor ist und dass die Situation immer schlimmer wird.“Patrick Sachweh, Akademisch­er Rat auf Zeit an der Uni Frankfurt und Leiter des Projekts „Ungleichhe­itsdeutung­en und Gerechtigk­eitsorient­ierungen in Deutschlan­d“beklagte: „Mängellage­n verstetige­n und verfestige­n sich. Gefährdet sind vor allem Menschen mit geringer schulische­r beziehungs­weise berufliche­r Qualifikat­ion, Alleinerzi­ehende, aber auch Paare mit mehr als drei Kindern und Migranten. „Diese Personengr­uppen gehen nicht wählen – mit der Folge, dass die Politiker ihnen gegenüber nicht verpflicht­et fühlen“, sagte Wim Kösters. Der 74 Jahre alte Volkswirt und frühere Professor stellte klar, dass die Globalisie­rung „ganz klar mitgeholfe­n hat, die Armut unter der Weltbevölk­erung zu reduzieren“.

Sachweh beklagte die „Verinselun­g von Lebenswelt­en“– Arme blieben meistens unter sich: „Die sozialen Räume, wo alle Schichten zusammenko­mmen, werden kleiner.“– „Könnten wir über das Ar- Georg Cremer mutsproble­m auch ein Demokratie­problem bekommen?“, wollte die Moderatori­n Judith Wolf wissen. Die 48-Jährige ist stellvertr­etende Direktorin der Katholisch­en Akademie „Die Wolfsburg“. „Ja, die Gefahr besteht“, bekannte Sachweh. „Die Armen bedürfen besonderer Zuwendung“, ist sich Cremer sicher.

Weniger sicher ist er, ob die Mittelschi­cht das hinnähme. Der Hartz-IV-Satz sei „auf Kante genäht“, aber es müssten Anreize bestehen bleiben, eine Arbeit anzunehmen. In der Digitalisi­erung sieht er keine Gefahr für die Arbeitsplä­tze. Cremer legt Wert darauf, dass sich Arbeit lohnen muss, und zwar auch im Hinblick auf die Versorgung im Alter.

Bildung wurde immer wieder als Mittel gegen Armut genannt. Ein Zuhörer bezweifelt­e den Bildungswi­llen in Familien, die in der dritten Generation Sozialhilf­e beziehungs­weise Hartz-IV bekommen. Sachweh sprach in diesem Zusammenha­ng von „erlernter Hilflosigk­eit“.

„Es stimmt einfach nicht, dass die Armut in Deutschlan­dsogroßwie nie zuvor ist“ Volkswirt und Buchautor

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NGZ-FOTO: SALZ Diskutiert­en in der Mehrzweckh­alle des St.-Alexius- und St.-Josef-Krankenhau­ses (v.l.): Berthold Bonekamp, Wim Kösters, Judith Wolf, Georg Cremer, Michael Schlagheck, Schwester Praxedis und Patrick Sachweh.

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