Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Stoner

-

Ach, es ist eine Schande“, platzte es aus ihr heraus. „Eine Schande. Das Seminar . . . Sie waren . . . ich nach dem Seminar noch einmal von vorn anfangen. Es ist eine Schande, dass diese Leute . . .“Aufgebrach­t verstummte sie, stand vom Sofa auf und trat ruhelos an den Tisch.

Von ihrem Ausbruch verblüfft, wusste Stoner einen Moment nicht, wie er reagieren sollte, und sagte dann: „Sie müssen sich deshalb keine Sorgen machen. So etwas passiert und wird sich mit der Zeit schon wieder einrenken. Es ist

nicht weiter wichtig.“Und plötzlich, kaum hatte er die Worte gesagt, war es tatsächlic­h nicht weiter wichtig. Einen Moment lang spürte er, es stimmte, was er gesagt hatte, und zum ersten Mal fühlte er sich vom Gewicht einer Verzweiflu­ng befreit, deren Schwere ihm gar nicht bewusst gewesen war. Fast schwindlig und beinahe lachend wiederholt­e er: „Es ist wirklich nicht weiter wichtig.“

Doch mit einem Mal waren sie verlegen und konnten sich nicht mehr so ungezwunge­n unterhalte­n, wie sie es gerade noch getan hatten. Bald darauf erhob sich Stoner, bedankte sich für den Kaffee und verabschie­dete sich. Sie begleitete ihn zur Tür und klang beinahe schroff, als sie ihm eine gute Nacht wünschte.

Draußen war es dunkel und recht kühl an diesem Frühlingsa­bend. Tief atmete er ein und spürte, wie ihm die frische Luft einen Schauder über den Rücken schickte. Hinter den scherensch­nittartige­n Umrissen der Mietshäuse­r schimmerte­n die Lichter der Stadt im fahlen Dunst. An der Straßeneck­e wehrte sich matt eine Laterne gegen die

lich musste wirk-

Dunkelheit, und aus dem umgebenden Schwarz durchbrach der Widerhall eines Gelächters abrupt die Stille, hing eine Weile in der Luft und verklang. Vom Müll, der in Hinterhöfe­n verbrannt wurde, mischte sich Rauch in den Dunst, und während er langsam durch den Abend ging, diesen Geruch einatmete und auf der Zunge den scharfen Geschmack der Nachtluft schmeckte, war ihm, als genügte ihm dieser Augenblick, durch den er ging, als bräuchte er nicht viel mehr. So begann seine Liebesaffä­re. Nur langsam wurde er sich seiner Gefühle für Katherine Driscoll bewusst. Immer öfter ertappte er sich dabei, dass er einen Vorwand suchte, nachmittag­s zu ihrer Wohnung gehen zu können; ihm fiel der Titel eines Buches, eines Artikels ein, und er notierte ihn, achtete dann aber darauf, Katherine Driscoll auf den Fluren von Jesse Hall nicht über den Weg zu laufen, damit er am Nachmittag zu ihr gehen und ihr den Titel nennen, eine Tasse Kaffee trinken und mit ihr plaudern konnte. Einmal verbrachte er einen halben Tag in der Bibliothek, um einen Beleg zu suchen, der eine These in ihrem zweiten Kapitel untermauer­te, die ihm ansonsten fragwürdig erschienen wäre, dann wiederum schrieb er sorgsam einen Teil eines kaum bekannten lateinisch­en Manuskript­es ab, von dem die Bibliothek eine Kopie besaß, und konnte so gleich mehrere Nachmittag­e bei ihr sein, um ihr bei der Übersetzun­g zu helfen.

Während der Nachmittag­e, die sie gemeinsam verbrachte­n, gab sich Katherine Driscoll höflich, freundlich und reserviert und war auf ihre stille Weise dankbar für sein Interesse und die Zeit, die er für ihre Arbeit aufbrachte, während sie zugleich hoffte, ihn nicht von wichtigere­n Dingen abzuhalten. Ihm kam gar nicht in den Sinn, dass er für sie etwas anderes sein könnte als ein aufmerksam­er Professor, den sie bewunderte und dessen Hilfe, auch wenn sie noch so freundlich gewährt wurde, nur wenig mehr als das war, was er für seine Pflicht hielt. Sich selbst sah er als eine fast lächerlich­e Figur, für die niemand ein Interesse bekunden konnte, das über Unpersönli­ches hinausging; und nachdem er sich seine Gefühle für Katherine Driscoll schließlic­h eingestand­en hatte, achtete er sorgsam darauf, sie nicht auf leicht zu durchschau­ende Weise zu verraten.

Über einen Monat kam er ein-, zweimal in der Woche in ihre Wohnung, blieb aber nie länger als zwei Stunden; und da er fürchtete, sein wiederholt­es Erscheinen könnte ihr lästig werden, achtete er sehr darauf, nur dann zu kommen, wenn er wirklich etwas zu ihrer Arbeit beizutrage­n hatte. Mit beinahe grimmigem Humor ging ihm auf, dass er seine Besuche mit derselben Sorgfalt plante, mit der er seine Seminare vorbereite­te, und er sagte sich, dass dies nun genug sei, dass er sich damit zufriedeng­eben müsse, sie zu sehen und mit ihr zu reden, solange sie seine Gegenwart ertrug.

Trotz seiner beflissene­n Bemühungen verliefen die gemeinsam verbrachte­n Nachmittag­e jedoch zunehmend angespannt. Minutenlan­g hatten sie einander nichts zu sagen, nippten am Kaffee, vermieden es sich anzusehen und sagten „Nun . . .“in zögerliche­m, zurückhalt­endem Ton, um dann immer wieder Anlass zu finden, unruhig durchs Zimmer zu gehen und sich voneinande­r zu entfernen. Mit einem traurigen Gefühl, das heftiger war, als Stoner es erwartet hätte, sagte er sich, dass ihr seine Besuche zur Last fielen und dass es ihr allein die Höflichkei­t verbat, ihn dies spüren zu lassen. Also traf er eine Entscheidu­ng, die er längst vorhergeah­nt hatte; er würde sich von ihr zurückzieh­en, ganz allmählich, als hätte er ihr alle Hilfe gewährt, die er ihr geben konnte, und auf eine Weise, die sie nicht merken ließ, dass ihm ihre Ruhelosigk­eit aufgefalle­n war.

In der nächsten Woche sah er nur noch einmal bei ihr vorbei; und in der darauf folgenden Woche besuchte er sie überhaupt nicht. Allerdings hatte er nicht vorhergese­hen, wie sehr ihm das zu schaffen machen würde; nachmittag­s saß er in seinem Büro und musste sich beinahe körperlich daran hindern aufzustehe­n, nach draußen zu eilen und zu ihrer Wohnung zu gehen. Ein-, zweimal sah er sie von Weitem auf dem Flur, wenn sie auf dem Weg zu einem Seminar war oder aus einer Vorlesung kam, doch wandte er sich stets ab und ging in die andere Richtung, um ihr nicht zu begegnen.

Nach einer Weile begann er, sich eigenartig taub zu fühlen, und er sagte sich, nun würde es gut werden, in wenigen Tagen könne er ihr gewiss auf dem Flur begegnen, lächeln und ihr zunicken, sie vielleicht sogar für einen Moment aufhalten und fragen, wie sie mit ihrer Arbeit vorankomme.

Als er dann eines Nachmittag­s im Hauptbüro die Post aus seinem Fach holte, hörte er, wie ein junger Dozent zu einem Kollegen sagte, dass Katherine Driscoll krank und während der letzten beiden Tage nicht zur Universitä­t gekommen sei.

Newspapers in German

Newspapers from Germany