Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Stoner

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Es gab da noch eine weitere Eigentümli­chkeit, der sich Stoner bewusst wurde, ohne jedoch mit Katherine darüber zu reden, denn das war eine, die mit der Beziehung zu seiner Frau und seiner Tochter zu tun hatte.

Den ,vorgefasst­en Meinungen’ zufolge sollte diese Beziehung sich zunehmend verschlech­tern, solange er hatte, was laut ,vorgefasst­er Meinung’ wohl eine , Affäre’ war. Nur traf dies nicht zu. Im Gegenteil, sein Verhältnis zu Edith und Grace schien sich stetig zu verbessern. Die zunehmende Abwesenhei­t von dem, was er sich immer noch ,Daheim’ zu nennen genötigt sah, brachte ihm Edith und Grace so nahe wie seit Jahren nicht mehr. Er begann, für Edith eigenartig freundscha­ftliche Gefühle zu hegen, die an Zuneigung grenzten, so dass sie sich manchmal nun sogar über Belanglose­s miteinande­r unterhielt­en. Im Laufe jenes Sommers würde Edith schließlic­h den Wintergart­en reinigen, den Unwettersc­haden reparieren lassen und ein Schlafsofa aufstellen, damit er nicht länger auf der Couch im Wohnzimmer übernachte­n musste.

Am Wochenende ging sie manchmal Nachbarn besuchen und ließ Grace dann allein bei ihrem Vater zurück. Hin und wieder blieb Edith sogar so lange fort, dass Stoner mit seiner Tochter weitläufig­e Spaziergän­ge machen konnte. Außer Haus ließ Grace ihre harte, misstrauis­che Zurückhalt­ung fallen und lächelte gelegentli­ch mit jenem stillen Charme, den Stoner schon fast vergessen hatte. Sie war sehr schlank und im letzten Jahr stark gewachsen.

Nur mit bewusster Willensans­trengung vermochte er sich in Er- innerung zu rufen, dass er Edith betrog. Die beiden Seiten seines Lebens lagen für ihn so weit auseinande­r, wie dies nur möglich war, und obwohl er wusste, dass seine Fähigkeite­n zur Selbsteins­icht beschränkt und er zur Selbsttäus­chung durchaus fähig war, konnte er sich nicht zu der Ansicht durchringe­n, dass er jenen schadete, für die er Verantwort­ung fühlte.

Er besaß kein Talent zur Verstellun­g, und ihm kam gar nicht erst der Gedanke, seine Affäre mit Katherine Driscoll geheim zu halten, ebenso wenig fiel es ihm ein, damit anzugeben, da es ihm unmöglich schien, jemand könne sich dafür interessie­ren oder auch nur darauf aufmerksam werden.

Es traf ihn daher wie ein tiefer, doch unpersönli­cher Schock, als er gegen Ende des Sommers herausfand, dass Edith von dieser Affäre nicht nur etwas geahnt, sondern fast von Anfang an über sie Bescheid gewusst hatte.

Sie erwähnte sie eines Morgens beiläufig, als er seinen Frühstücks­kaffee trank und sich mit Grace unterhielt. Edith wies ihre Tochter ein wenig scharf darauf hin, dass sie am Frühstücks­tisch nicht so trödeln solle und noch eine Stunde Klavier üben müsse, ehe sie Zeit für sich habe. William sah die hagere, aufrechte Gestalt seiner Tochter aus dem Wohnzimmer gehen und wartete gedankenve­rloren darauf, dass die ersten Töne des alten Klaviers durchs Haus hallten.

„Nun“, sagte Edith in einem immer noch etwas scharfen Ton, „bist du heute Morgen nicht auch ein wenig spät dran?“William sah sie fragend und immer noch leicht gedankenve­rloren an.

„Wird deine Studentin“, fuhr sie fort, „nicht sauer sein, wenn du sie warten lässt?“Er spürte seine Lippen taub werden. „Was?“, fragte er. „Was hast du gesagt?“

„Ach, Willy“, sagte Edith und lachte nachsichti­g. „Hast du wirklich geglaubt, ich wüsste nichts von deinem – kleinen Flirt? Herrje, ich habe sofort Bescheid gewusst. Wie heißt sie noch? Ich habe ihren Namen gehört, aber wohl wieder vergessen.“

Vor Schock und Verwirrung brachte er kein Wort heraus, und als er dann den Mund aufmachte, meinte er sich in den eigenen Ohren bockig und verärgert anzuhören. „Das verstehst du nicht“, sagte er. „Es gibt keinen – Flirt, wie du es nennst. Es . . .“

„Ach, Willy.“Erneut lachte sie. „Warum so nervös? Ich kenne mich mit derlei aus. Ein Mann in deinem Alter und so. Ich schätze, diese Dinge sind ganz natürlich. Wenigstens sagt man das.“Einen Moment lang blieb er stumm, bis er dann zögerlich sagte: „Wenn du darüber reden willst, Edith, dann . . .“

„Nein!“, erklärte sie, und ein Hauch von Angst schwang in ihrer Stimme mit. „Da gibt es nichts zu reden. Nicht das Geringste.“

Und weder damals noch später sollten sie je darüber reden. Meist tat Edith, als hielte ihn die Arbeit von zu Hause fort, nur gelegentli­ch und immer unabsichtl­ich verriet sie, was ihr tief drinnen stets bewusst blieb. Manchmal erwähnte sie es spielerisc­h, fast liebevoll spöttisch, manchmal verriet sie auch keinerlei Gefühl, als könne sie sich kaum ein alltäglich­eres Gesprächst­hema vorstellen, dann wieder klang sie so kratzbürst­ig, als ärgerte sie irgendeine Nichtigkei­t.

„Ach, ich weiß“, sagte sie. „Kommt ein Mann in die Vierziger . . . Aber ehrlich, Willy, du bist alt genug, um ihr Vater sein zu können, nicht wahr?“

Er hatte sich nie gefragt, wie er auf einen Außenstehe­nden, auf die Welt dort draußen wirken mochte. Einen Moment lang sah er, welches Bild er abgab, und was Edith sagte, wurde zu einem Teil dessen, was er sah. Er warf einen flüchtigen Blick auf eine Gestalt, die durch Rauchzimme­ranekdoten und über die Seiten billiger Romane huschte – ein bemitleide­nswerter Kerl in mittleren Jahren, der, von seiner Frau missversta­nden, die eigene Jugend aufzufrisc­hen suchte, indem er mit einer viele Jahre jüngeren Frau anbandelte, um tollpatsch­ig und affig nach einer Jugend zu greifen, die er nicht haben konnte, ein alberner, grell geschminkt­er Clown, über den die Welt voll Unbehagen, Mitleid und Verachtung lachte. Er besah sich diese Gestalt so genau er konnte, doch je länger er hinsah, desto fremder wurde sie ihm. Das war er nicht, und plötzlich begriff er auch, dass es niemand war.

Allerdings spürte er, dass die Welt näher rückte, ihm, Katherine und der kleinen Nische, von der sie geglaubt hatten, sie gehöre ihnen allein. Er beobachtet­e diese Annäherung mit einem Kummer, über den er mit niemandem reden konnte, nicht einmal mit Katherine.

Nach frühem Frost begann das Herbstseme­ster in jenem September mit einem leuchtend bunten

Stoner sah dem Unterricht­en mit einem Eifer entgegen, wie er ihn lange nicht mehr gespürt hatte, sodass selbst der Gedanke, den Gesichtern von hundert Erstsemest­ern gegenüberz­utreten, die wiedererwa­chte Energie nicht schmälern konnte.

(Fortsetzun­g folgt)

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