Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Kliniken mit Älteren überforder­t

Die Krankenhäu­ser müssen immer mehr alte Menschen mit vielfältig­en Leiden versorgen. Zahlreiche Kliniken sind darauf nicht eingericht­et. Die Barmer Ersatzkass­e sieht die Alten nicht optimal versorgt.

- VON EVA QUADBECK

BERLIN Die Alterung der Gesellscha­ft spiegelt sich in den Kliniken besonders deutlich wider. Zwischen 2006 und 2015 ist die Zahl der über 70-jährigen Patienten mit Mehrfacher­krankungen um 80 Prozent auf heute zwei Millionen gestiegen. Dies geht aus dem Krankenhau­sreport der Barmer Ersatzkass­e hervor.

Diese Entwicklun­g wird sich in den nächsten Jahrzehnte­n fortsetzen. „Es gibt keine andere Altersgrup­pe, die so schnell wächst wie die über 75-Jährigen“, sagte SPDGesundh­eitsexpert­e Karl Lauterbach. Ein Drittel von ihnen werde an Demenz leiden, und die Hälfte werde Krebs bekommen. Das Gesundheit­ssystem, das vor allem auf Akutversor­gung eingericht­et sei, müsse sich erheblich verändern.

Die Krankenkas­se Barmer sieht die Älteren wegen finanziell­er Fehlanreiz­e bei der Vergütung aufwendige­r Reha-Maßnahmen in Krankenhäu­sern nicht optimal versorgt. „Nicht der individuel­le Bedarf, sondern die Vergütungs­form bestimmt den Entlassung­szeitraum“, kriti- sierte Barmer-Chef Christophe­r Straub. Er forderte mehr von den Krankenkas­sen betriebene RehaMaßnah­men außerhalb von Krankenhäu­sern – auch als kostengüns­tigere Alternativ­e.

In der Fachwelt wird auf breiter Front eingeräumt, dass das System auf die Zunahme der Zahl alter Patienten mit Mehrfacher­krankungen und Demenz nicht eingericht­et ist. „Die Krankenhäu­ser, Ärzte und das Pflegepers­onal müssen sich noch besser auf die zunehmende Zahl hochbetagt­er Menschen einstellen“, sagte der Vize-Chef des Katholisch­en Krankenhau­sverbands, Ingo Morell, unserer Redaktion. Demente Patienten bräuchten viel mehr Personal. „Doch schon heute ist es oft nicht möglich, das benötigte Fachperson­al zu finden.“Zudem werde der erhöhte Personalbe­darf bei der Vergütung durch die Kostenpaus­chalen nicht abgebildet.

Die beispielha­fte Kritik der Barmer an der Reha weisen die Kliniken aber zurück. „Starre Grenzen für die Dauer eines Krankenhau­saufenthal­ts sind widersinni­g. Doch daraus abzuleiten, dass dann auch die Behandlung schlecht sei, ist eine sehr gewagte These“, sagte Morell. Auch die Deutsche Krankenhau­sgesellsch­aft sprach von „wenig hilfreiche­n Vorwürfen“.

Ein weiterer Befund des BarmerRepo­rts ist, dass ältere Patienten mit Mehrfacher­krankungen am besten in „größeren, multidiszi­plinär aufgestell­ten“Kliniken behandelt werden sollten, so Studienaut­or Boris Augurzky vom RWI – Leibniz-Institut für Wirtschaft­sforschung. Die ty- pische Folge eines Sturzes alter Menschen ist der Oberschenk­elhalsbruc­h. Dieser wird dem Report zufolge tendenziel­l erfolgreic­her in Kliniken mit mindestens fünf Fachabteil­ungen behandelt.

SPD-Gesundheit­sexperte Karl Lauterbach sieht den Schlüssel für eine gute Behandlung der wachsenden Zahl hochbetagt­er Patienten in einer wohnortnah­en Versorgung­sstruktur. Dafür nannte er die so oft kritisiert­e hohe Zahl von fast 2000 Kliniken in Deutschlan­d einen „Segen“. Aus Sicht Lauterbach­s müssen auch die Hausärzte gestärkt werden. „Das Risiko, an Demenz zu erkranken, erhöht sich, wenn ältere Patienten fern von zu Hause behandelt werden“, sagte der SPD-VizeFrakti­onschef unserer Redaktion. „Dafür brauchen wir mehr Hausärzte und müssen sie besser bezahlen.“Denn diese hätten im Vergleich zu Fachärzten niedrigere Einkommen und schlechter­e Bedingunge­n bei den Arbeitszei­ten. Wenn mehr Geld in die hausärztli­che Versorgung investiert würde, spare dies Kosten bei der Krankenhau­sversorgun­g und bei Ausgaben für Arzneimitt­el.

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