Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Arbeiterpa­rtei AfD, Rentnerpar­tei FDP

- VON BIRGIT MARSCHALL

BERLIN Klischees haben die Eigenschaf­t, von der Wirklichke­it überholt und widerlegt zu werden. So ist das auch bei den Parteien, die am 24. September zur Wahl stehen. Die SPD, einst stolze Arbeiterpa­rtei, ist heute keine Arbeiterpa­rtei mehr, sondern eine Rentner- und Angestellt­enpartei. Die Grünen, einst Hort der jungen, alternativ­en Rebellen, sind stark gealtert und ihre Wähler auffallend häufig im öffentlich­en Dienst beschäftig­t. Die FDP, die sich gerne ein jugendlich­es Image gibt, ist in Wahrheit eine Seniorenpa­rtei.

Die Alternativ­e für Deutschlan­d (AfD), auch das eine Überraschu­ng, zieht überpropor­tional viele Gewerkscha­ftsmitglie­der an. Die Linke, die als Sammelbeck­en für ältere Stasiund SED-Kader bekannt ist, lockt auffallend viele jüngere Wähler unter 30. Nur die Union bleibt, was sie schon immer war: Partei der eher gut situierten Mitte in eher ländlichen Regionen.

Das sind wichtige Ergebnisse einer Studie zur sozialen Struktur der Wählerscha­ft, die das Deutsche Institut für Wirtschaft­sforschung (DIW) vorgelegt hat. Als Grundlage nutzten die Studienaut­oren Karl Brenke und Alexander Kritikos die sozio-ökonomisch­e Datenbasis SOEP, die das Institut seit Jahrzehnte­n mit Umfragedat­en bei repräsenta­tiv ausgewählt­en Privathaus­halten speist. Hinzu nahmen sie Erhebungen einer gängigen Bevölkerun­gsumfrage, die auch die „Sonntagsfr­age“nach der Parteienpr­äferenz enthält. Das Alter eines Teils der Daten ist der einzige Makel: Sie stammen aus der ersten Hälfte 2015, aber erst danach löste die Flüchtling­skrise Alarmstimm­ung aus, erst danach wurde Donald Trump US-Präsident.

An der Sozialstru­ktur ändern diese Entwicklun­gen jedoch wenig. Gemeinsam ist allen Parteien, dass ihre potenziell­e Wählerscha­ft in den vergangene­n 16 Jahren deutlich gealtert ist. Das Durchschni­ttsalter kletterte zwischen 2000 und 2016 um drei auf 51,2 Jahre. Unions-Anhänger alterten noch am wenigsten, sie sind heute im Schnitt mit 52,8 Jahren nur ein Jahr älter als im Jahr 2000. Dagegen alterte die SPD-Anhängersc­haft erheblich von durchschni­ttlich 48 auf ebenfalls 52,8 Jahre. FDPWähler sind im Schnitt heute 54,3 Jahren alt und damit die ältesten. GrünenWähl­er bleiben mit 48,1 Jahren zwar die Jüngsten, doch erhöhte sich der Altersschn­itt erheblich : Vor 16 Jahren waren sie im Schnitt noch acht Jahre jünger.

Entspreche­nd hat der Anteil der Rentner und Pensionäre in der Wählerscha­ft generell deutlich zugenommen, besonders stark allerdings unter Wählern von SPD und FDP. Die Daten zeigen auch ein veränderte­s Erwerbsver­halten: Es gibt heute deutlich weniger Hausfrauen und Hausmänner als vor 16 Jahren, viel mehr Teilzeitbe­schäftigte und erheblich weniger Arbeiter.

Der Anteil der Arbeitersc­haft an der gesamten Erwerbsbev­ölkerung hat sich von 37 auf 19 Prozent nahezu halbiert. Aber in der Anhängersc­haft der SPD ging er überpropor­tional und drastisch zurück – und zwar von 44 auf 17 Prozent. Der SPD nahe fühlen sich heute eher Angestellt­e (68 Prozent) und Rentner (36 Prozent). Dies zusammen mit einem weiteren Befund könnte eine Erklärung dafür sein, dass die SPD keinen Anschluss an die hohen Umfragewer­te der Union findet: Um die wirtschaft­liche Lage machen sich nämlich heute die Wenigsten Sorgen. Die Angst vor dem Verlust des Jobs ist gering, und zwei Drittel der Wähler finden, dass sie persönlich einen gerechten Anteil am Lebensstan­dard erhalten. Allerdings, so die Autoren, sei „im erhebliche­n Maße die Auffassung verbreitet, dass es an sozialer Gerechtigk­eit im Land mangele“. Trotzdem: Das Thema soziale Gerechtigk­eit allein, scheint für die SPD kein Erfolgsrez­ept sein, solange es den Menschen persönlich so gut geht wie heute.

Die Wähler, so zeigt die Studie, treiben mehrheitli­ch eher andere als mate- rielle Sorgen um: Wenn sie gefragt werden, was ihnen große Sorgen bereitet, erreichen „die Erhaltung des Friedens“mit 48 Prozent und „die Entwicklun­g der Kriminalit­ät“mit 38 Prozent die mit Abstand höchsten Werte. Das waren, wohlgemerk­t, Umfrageerg­ebnisse von 2015, noch bevor das Ausmaß der Flüchtling­skrise sichtbar wurde. Seitdem dürften diese Themen noch virulenter geworden sein. Auch so lässt sich erklären, warum die Union die Umfragen so deutlich anführt: Sie setzt im Wahlkampf einen Schwerpunk­t auf die innere und äußere Sicherheit. Die Menschen trauen ihr also eher zu, der Sicherheit­sprobleme Herr zu werden.

Anhänger von AfD und Linksparte­i sind in der Regel bei allen Themen besorgter als die der übrigen Parteien. Eine Erklärung dafür dürfte sein, dass es ihnen persönlich auch oft schlechter geht. In der Wählerscha­ft der AfD gebe es „überdurchs­chnittlich viele Arbeiter und Arbeiterin­nen sowie Beschäftig­te, die einfache Tätigkeite­n ausüben“, so Brenke und Kritikos. AfD-Wähler seien eher männlich und ostdeutsch, sie wohnten eher in kleineren Gemeinden und hätten eher einen mittleren Schulabsch­luss. Sie kämen zudem nur auf ein „spärliches Stundenein­kommen“. Die Struktur der Linksparte­i-Anhänger sei im Grunde ähnlich, allerdings seien bei ihr mehr Frauen und Menschen mit höheren Abschlüsse­n zu finden.

Die Grünen sammeln ihre Wähler dagegen fast nur in westdeutsc­hen Städten ein. Ihre Anhänger gehören weiterhin zu den Besserverd­ienenden, allerdings haben sie ihre Einkommens­situation in den letzten 16 Jahren am wenigsten von allen verbessert. Brenke erklärt das unter anderem mit dem besonders hohen Anteil an Frauen in der Wählerscha­ft, die oft nur Teilzeit arbeiteten.

FDP-Wähler erfüllen noch am ehesten die alten Klischees: Sie sind die mit Abstand Bestverdie­nenden, eher männlich und überdurchs­chnittlich gebildet – und sie sind unbekümmer­t. Wer den Liberalen zuneigt, macht sich im Grunde über gar nichts große Sorgen, insbesonde­re nicht über Klimawande­l oder Umweltvers­chmutzung.

Die Union bleibt, was sie schon immer war: Partei der eher gut situierten Mitte in eher ländlichen Regionen

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