Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
Lechts und rinks
An der Glasfront des Plenarsaals in Bonn waren Gedichte angebracht – ein schönes Zeichen der Weltoffenheit. Unter anderem war dort „Lichtung“von Ernst Jandl zu lesen: „manche meinen / lechts und rinks / kann man nicht velwechsern. / werch ein illtum!“Es ist eins der meistzitierten deutschsprachigen Gedichte des 20. Jahrhunderts. Man darf also davon ausgehen, dass auch der Spitze der SPD die Zeilen geläufig sind, zumal dem gelernten Buchhändler Martin Schulz.
Gut 50 Jahre nach seiner Niederschrift scheint „Lichtung“wie für die Debatte dieser Tage, speziell für die SPD, gemacht zu sein. Denn die Republik hat nach dem G20Gipfel in Hamburg über Extremismus diskutiert, über links und rechts, über politische Gewalt – und manches Weltbild ist dabei lautstark mit der Realität kollidiert.
G20 und die Gewaltorgie im Schanzenviertel sind auch eine Herausforderung für die politische Kultur. Hier soll es nicht darum gehen, ob die Bedrohung durch Linksextreme unterschätzt worden ist. Es geht um die Nachbereitung der Tage von Hamburg. Und da verwandte eine Reihe hochrangiger Sozialdemokraten auffällig viel Energie darauf, die Begriffsfelder „links“und „Gewalt“zu trennen. Parteichef und Kanzlerkandidat Martin Schulz: Die Gewalttäter seien „bescheuert, aber nicht links“. Sein Vorgänger, Außenminister Sigmar Gabriel: „Mit angeblich ‚linken Motiven’ hat das alles nichts zu tun.“Familienministerin Katarina Barley: „Wer wirklich links ist, der ist politisch nicht für Gewalt.“
Gewalt ist schlecht, klar; aber links ist gut, also ist linke Gewalt ein Widerspruch in sich – so die Argumentation. Das erinnert an den Aufschrei gemäßigter Muslime nach einem islamistischen Terroranschlag, der Terror habe nichts mit dem Islam zu tun. Hat er aber sehr wohl, denn die Attentäter berufen sich auf den Islam – ob zu Recht oder zu Unrecht, ist zunächst unerheblich. Jeder islamistische Selbstmordattentäter ist ein Problem für den Islam.
Sätze wie die von Schulz, Gabriel und Barley wären mit guten Gründen geächtet, würde man „links“durch „rechts“ersetzen – Jandl lässt grüßen. Ein Flüchtlingsheim anzuzünden habe nichts mit rechten Motiven zu tun? Mag man von einem sächsischen Dorfbürgermeister hören oder gleich von der AfD, aber nicht aus der politischen Mitte. Von „rechter Gewalt“als Synonym für Rechtsextremismus dagegen spricht etwa Schulz ganz selbstverständlich. Rechts zu sein, ist hierzulande nach der NS-Diktatur nicht mehr sozial akzeptiert. Die Verbrechen der Nazis haben ein Drittel des politischen Spektrums so kontaminiert, dass niemand Chancen auf eine Mehrheit hat, der sich als rechts bezeichnet. „Die Linke“ist eine etablierte Partei und stellt die größte Oppositionsfraktion im Bundestag, „Die Rechte“ist eine extremistische Splittergruppe. Nicht einmal die AfD, die wirklich allen Grund hätte, nennt sich rechts – in der Selbstdarstellung auf ihrer Website fallen Adjektive wie frei, liberal und konservativ.
Das ist schon erstaunlich. Denn fragt man etwa die Bundesbürger nach ihrer Selbsteinschätzung, ergibt sich ein fast symmetrisches Bild: Auf einer Skala von 0 (links) bis 10 (rechts) ordnete sich 2014 zwar ein knappes Drittel genau in der Mitte ein – der Rest aber verteilte sich gleichmäßig auf beide Seiten, mit deutlichem Drang zur Mitte. Auch wenn ein Drittel der Deutschen sich rechts der Mitte sieht: Extremismus mag man nicht, und „rechts“trägt diesen Ruch. Von einer „ausgeprägten Sensibilisierung der deutschen Öffentlichkeit“sprach der Politikwissenschaftler Matthias Micus bei „Focus Online“. Privat und in der Anonymität der Statistik mag man sich als rechts bezeichnen – öffentlich rechts zu sein, ist keine Option.
Das ist jedoch nur die eine Seite des Problems, eben die rechte. Die linke hat
„Wer wirklich links ist, der ist politisch nicht für Gewalt“
Katarina Barley (SPD)
Bundesfamilienministerin