Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Wenn Kinder in ihrer eigenen Welt leben

Zwei Mütter erzählen von ihren autistisch­en Kindern und einem Wunsch an die Gesellscha­ft: Menschen sollen nicht zu schnell urteilen.

- VON NATALIE URBIG

NEUSS Leonie ist 13 Jahre alt. Sie schwimmt und malt gerne, schaut am liebsten Tiersendun­gen und fährt jeden Morgen um sieben Uhr zu einer Förderschu­le in Kaarst. Mit sechs Jahren wurde bei ihr die Autismus-Spektrum-Störung diagnostiz­iert. Das ist der Oberbegrif­f für eine Entwicklun­gsstörung, die sich in verschiede­nen Ausprägung­en bemerkbar machen kann – Merkmale sind etwa Schwierigk­eiten im sozialen Umgang und eine Umwelt, die als reizüberfl­utet wahrgenomm­en wird. „Vor der Diagnose war es keine leichte Zeit für uns“, erinnert sich Leonies Mutter, Annette B. aus Neuss. In der Kita habe Leonie andere Kinder gehauen oder mit Sand beworfen. Heute weiß Anette B., dass es ihre Art war, Kontakt zu suchen. Auf Anraten der Erzieher suchte die Mutter mit ihrer Tochter eine Therapie auf, die erfolglos blieb. „Erst wurde vermutet, dass sie ADHS hat, weil sich die Symptome ähneln.“Nach der Diagnose sei der richtige Behandlung­sansatz gefunden wurden: Die Therapeuti­n half Anette B. dabei, dass Verhalten ihrer Tochter besser zu verstehen. Leonie hingegen lernte etwa Mimiken zu deuten: „Emotionen einzuordne­n bereitet ihr Probleme. Manchmal weint sie vor dem Fernseher, wenn etwas Trauriges passiert ist, weil sie glaubt, das müsse sie nun machen.“Leonies Alltag braucht eine klare Struktur, Arztbesuch­e etwa müssen lange vorbereite­t werden, vermeintli­che Kleinigkei­ten werden zu einer Herausford­erung, die Mutter und Tochter „enorm viel Kraft abverlange­n.“Leonies Laune kann plötzlich umschlagen: „Man weiß nicht immer warum, manchmal kann es nur ein falscher Geruch sein“, sagt sie. Und wenn Annette B. mit ihrer Tochter unterwegs ist, erlebt sie immer wieder die Vorurteile: „Man sieht ihr ja nicht an, dass sie autistisch ist. Die Leute halten sie für frech, mischen sich in Gespräche ein oder wechseln sogar die Straßensei­te.“

Auch Herta Buick kennt solche Situatione­n: Der Sohn der 80-Jährigen ist Autist. „Viele hielten ihn für Unerzogen, es gab Kommentare wie „Dem Jungen würde ich es zeigen.“

Mittlerwei­le habe sich die Akzeptanz gebessert „es wird vermehrt über das Thema berichtet“, sagt sie.

Doch Herta Buick kennt auch andere Zeiten: Als ihr Sohn Ende der 60er Jahre geboren wurde, sei zunächst nicht aufgefalle­n, dass er anders war. Erst wurde er wegen einer Schilddrüs­enunterfun­ktion behandelt, später kam die Vermutung, dass es sich um einen frühkindli­chen Autismus handelt. Damals habe es wenige Informatio­nen gegeben, erzählt die ehemalige Volksschul­lehrerin, Fachlitera­tur war größtentei­ls auf Englisch. Als ihr Sohn auf die Sonderschu­le am Nordpark in Neuss kam, trafen sie auf eine Lehrerin, die sich gut mit dem Thema auskannte. Mit der Zeit wurden auch die Eltern vertrauter mit dem Thema, sie führten Beobachtun­gsbögen darüber, wann Christian welche Reaktion zeigte. „Wenn zum Beispiel nicht das richtige Essen auf dem Tisch stand oder bestimmte Plätzchen fehlten, hat er es mit Geschrei kundgetan“, erinnert se sich heute.

Genau wie Leonie, die eine gute Schwimmeri­n und Malerin ist, hat auch Christian seine Begabungen: Er spielt Keyboard und Schlagzeug, interessie­rt sich für Maschinen und hat ein gutes Kalenderge­dächtnis.

„Das Wohnen im Wohnhaus der Lebenshilf­e und seine Arbeit in der GWN (Gemeinnütz­ige Werkstätte­n Neuss) geben ihm die feste Tagesstruk­tur, die er als Autist unbedingt braucht“, sagt Herta Buick. Durch ihren Sohn wurde sie ehrenamtli­ch tätig: In der Gemeinde an der Einsteinst­raße engagierte sie sich in einer Freizeitgr­uppe für junge Menschen mit Behinderun­g, die auf die Idee der ersten Pfarrerin, Gerda Minx, gegründet wurde. Später initiierte Herta Buick mit einer anderen Familie ein Sportangeb­ot und betreute die Aktion Stadtrandf­erien für Kinder mit Behinderun­g. Auch heute ist Herta Buick noch ehrenamtli­ch für die Lebenshilf­e tätig und leitet einen Malkurs für Senioren. Durch die Rückblicke der 80-Jährigen wird deutlich, wie viel in den vergangene­n Jahren für Menschen mit Behinderun­g erreicht worden ist. Ein Wunsch ist aber immer noch aktuell: „Mehr Verständni­s und dass Menschen nicht vorschnell ihr Urteil über andere fällen“, sagt Annette B.

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FOTO: UBG Herta Buick hat einen autistisch­en Sohn und engagiert sich ehrenamtli­ch für die Lebenshilf­e Neuss.

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