Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Eine Partei in der Vertrauens­krise

Nach einer harten und langen Debatte um eine mögliche große Koalition gibt es eine breite Mehrheit für Gespräche mit der Union.

- VON JAN DREBES, MARTIN KESSLER UND EVA QUADBECK

BERLIN Zehn Minuten früher als geplant tritt der Mann an das Rednerpult, auf den derzeit die gesamte Republik schaut. SPD-Chef Martin Schulz weiß, dass es für seine Partei, für die politische Zukunft des Landes und nicht zuletzt für ihn selbst auf seine Worte ankommt. 75 Minuten lang hörten die rund 600 Delegierte­n einen Vorsitzend­en, der ungewöhnli­ch demütige, inhaltlich teils neue und gleichzeit­ig wenig eindeutige Töne anschlug.

Schulz kann nicht anders. Er muss eine Kehrtwende weg vom bisherigen Opposition­skurs hin zu ergebnisof­fenen Gesprächen mit der Union vollziehen, ohne selbst Position für oder gegen die große Koalition zu beziehen können. Diese schwierige Aufgabe ist ihm bei der Rede anzumerken. Er gesteht eigene Fehler im Wahlkampf ein, entschuldi­gt sich gar für die historisch­e Wahlpleite, die er als 100-ProzentVor­sitzender eingefahre­n hatte. Schwerpunk­te setzte er bei Europa, erstmals auch beim Umweltschu­tz bis hin zu Digitalisi­erung und bei der Sexismus-Debatte. Sein Aufruf an die eigene Partei, nichts auszuschli­eßen, mit dem er den Leitantrag des Parteivors­tandes für Gespräche mit der Union einbrachte, stieß auf wenig Applaus.

Die Position ist im Plenum an diesem ersten Tag des Bundespart­eitags in Berlin heftig umstritten. Die Jusos sowie zahlreiche Parteilink­e und Delegierte halten nichts von einer Fortsetzun­g der großen Koalition. Der Änderungsa­ntrag der Jusos steht später am Abend zur Abstimmung, nach viereinhal­b Stunden teils heftiger Debatte. Dass er schließlic­h mit breiter Mehrheit abgelehnt wird, ist für die Jusos dann besonders bitter.

Denn zwischenze­itlich sah es so aus, als könnten die Jusos die Debatte für sich entscheide­n. „Wir haben keinen Bock mehr auf Angela Merkel und ihren Politiksti­l“, rief etwa Ex-Juso-Chefin Johanna Uekermann. Stets brandete Applaus bei den kritischen Wortbeiträ­gen auf, immer wieder gingen Mitglieder des Parteivors­tands in die Wortgefech­te. Am späten Nachmittag stieß dann ein Initiativa­ntrag aus Nordrhein-Westfalen auf breite Unterstütz­ung, der den vor möglichen Koalitions­verhandlun­gen ur- sprünglich geplanten Parteikonv­ent in einen weiteren Sonderpart­eitag umwandeln will. Der Antrag geht am Ende durch, eine Brücke für die Gegner. Aus Sicht der Antragsste­ller um NRW-Landeschef Michael Groschek gibt es einen entscheide­nden Vorteil: Die Vertrauens­basis für weitere Verhandlun­gen nach Sondierung­sgespräche­n wird erhöht.

Denn was immer wieder anklang beim Parteitag, war eigentlich eine Bankrotter­klärung für die Führungssp­itze der SPD: Nicht nur die Jusos, auch viele Vertreter aus den Ländern machten in ihren Redebeiträ­gen deutlich, dass sie den Worten des Parteivors­tandes nicht mehr trauen. „Wir sind einer tiefen Vertrauens­krise ausgesetzt“, sagte etwa Juso-Chef Kevin Kühnert. Konkret ging es um den Begriff „ergebnisof­fene Gespräche“. Denn das Misstrauen, dass diese Gespräche wirklich ergebnisof­fen verlaufen und nicht doch mit einer gewissen Tendenz zur großen Koalition geführt werden könnten, war greifbar im Berliner Messegebäu­de. Immer wieder wurde betont, dass Vertrau- en in die handelnden Personen zentral sei – unabhängig von den Inhalten. Martin Schulz rief: „Es gibt keinen Automatism­us in irgendeine Richtung. Dafür gebe ich Ihnen meine Garantie.“Den Begriff „Ehrenwort“vermied er dem Vernehmen nach absichtlic­h.

Insgesamt legte die SPD eine erstaunlic­he Debattendi­sziplin an den Tag. Gegner wie Befürworte­r einer großen Koalition versuchten auf den Fluren des Parteitags­gebäudes zugleich Deutungsho­heit für sich zu gewinnen. Die einen argumentie­r- ten mit Juso-Chef Kevin Kühnert, es sei auch Teil einer staatspoli­tischen Verantwort­ung, der AfD nicht die Opposition­sführersch­aft im Bundestag zu überlassen. Die Befürworte­r einer Fortsetzun­g der großen Koalition hoben die Bedeutung des Gestaltens hervor. „Wir dürfen nicht kneifen“, sagte Niedersach­sens Ministerpr­äsident Stephan Weil, der zu Hause eine große Koalition führt. „Schlage die Trommel und fürchtet euch nicht“, ruft er den Delegierte­n entgegen und bekommt viel Zustimmung.

Klar war am Ende aber auch, dass der Weg hin zu einer möglichen Zusammenar­beit mit der Union noch lang ist. Die SPD wird so oder so Trippelsch­ritte gehen und ihr Handeln immer wieder rückkoppel­n müssen mit Delegierte­n und Mitglieder­n. Trotz eines respektabl­en Wahlergebn­isses von knapp 82 Prozent geht Schulz einer harten Zeit entgegen – die Vertrauens­krise ist nicht überwunden.

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FOTO: DPA Abgestimmt – der SPD-Vorstand (v.l.) um Heiko Maas, Martin Schulz, Andrea Nahles und Olaf Scholz bei dem Parteitag gestern in Berlin.

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