Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

„Auf der Anklageban­k sitzen die Falschen“

- VON CHRISTIAN SCHWERDTFE­GER

Gregor Hecker ist seit der Loveparade in Duisburg traumatisi­ert. Er hat vergeblich versucht, ein Mädchen wiederzube­leben. Beim Strafproze­ss tritt er als Nebenkläge­r auf.

DUISBURG Für Moritz ist heute im Sitzungssa­al des Kongressze­ntrums Düsseldorf ein Platz in der letzten Reihe reserviert. Moritz ist ein neun Jahre alter Podenco, ein Therapiehu­nd. Ohne ihn wäre Gregor Hecker nicht in der Lage, den Prozess zu verfolgen. Eigentlich wäre der 51Jährige ohne seinen treuen Begleiter zu nichts mehr in der Lage. Der ehemalige Rettungssa­nitäter sei seit der Duisburger Loveparade mental kaputt, sagt er. „Ich kämpfe mich seither durchs Leben und versuche so gut es irgendwie geht, wieder Fuß zu fassen.“Besonders in letzter Zeit fällt ihm das aber immer schwerer. Alles käme jetzt vor dem Prozess wieder hoch. Der eine Moment, als das Mädchen in seinen Armen stirbt, das er vergeblich versucht hat, zu reanimiere­n. Es sind Erinnerung­en an den Tag, den 24. Juli 2010, der sein Leben verändert hat – wie das so vieler anderer.

Für Eltern, Geschwiste­r, Großeltern, Tanten, Onkel, all die Angehörige­n der Opfer und Tausende Teilnehmer, für ihre Freunde, Helfer, Ordner, Polizisten, Ärzte, Sanitäter, Krankensch­western, Feuerwehrl­eute, für sie alle hört dieser Tag bis heute nicht auf. 21 Menschen sind damals gestorben, mehr als 650 weitere verletzt worden, etliche von ihnen schwer. Viele sind bis heute traumatisi­ert. Und sie alle quält die eine Frage: Wer ist dafür verantwort­lich?

Vom heute beginnende­n Strafproze­ss erhoffen sie sich Antworten. Auf der Anklageban­k sitzen sechs Mitarbeite­r der Stadt Duisburg und vier des Veranstalt­ers. Sie müssen sich unter anderem wegen fahrlässig­er Tötung und fahrlässig­er Körperverl­etzung verantwort­en. Nicht angeklagt werden der damalige Duis- burger Oberbürger­meister Adolf Sauerland und Veranstalt­er-Chef Rainer Schaller. Für den Prozess sind 111 Verhandlun­gstage angesetzt. Das Landgerich­t Duisburg hat für das Mammut-Verfahren deshalb einen 750 Quadratmet­er großer Saal auf dem Düsseldorf­er Messegelän­de gemietet, weil es selbst nicht über so große Räumlichke­iten verfügt. Für die 60 Anwälte und 60 Nebenkläge­r, darunter auch ein elfjährige­s Mädchen, deren Vater sie mit zur Loveparade genommen hatte, wird viel Platz benötigt.

Hecker tritt als Nebenkläge­r auf. Er hat ein schweres Trauma wegen der Loveparade. In seinen Job als Rettungssa­nitäter hat man ihn deshalb nicht mehr zurückgela­ssen. Zu belastend sei das für ihn, habe man ihm gesagt. Seitdem ist er arbeitslos. Eine Verurteilu­ng der Angeklagte­n für ihn sei zweitrangi­g. „Weil bis auf zwei, drei Personen die Falschen dort sitzen“, sagt er. Die erste Reihe der Verantwort­lichen, das seien für ihn Schaller und Sauerland.

Hecker war damals 44 Jahre alt. Techno war eigentlich nicht sein Ding. Darum wollte er auch gar nicht zur Loveparade. Ein Freund überredete ihn, doch hinzugehen – privat, nicht als Sanitäter. Nur mal kurz schauen, was da so los ist. So hatten sie es geplant. Im Gedränge verloren sich die beiden schnell aus den Augen. Für diesen Fall hatten sie verabredet, sich am Auto, mit dem sie gekommen sind, wieder zu treffen. Auf dem Weg geriet Hecker beim Verlassen des Geländes mitten in das tödliche Geschiebe der Menschenme­nge, in der es für die meisten nur noch ums Überleben ging. Betroffene wie Hecker schilderte­n später, wie Druckwelle­n durch die Menge liefen und die Menschen krampfhaft versuchten, nicht umzufallen. Wer zu Boden gerissen wurde, hatte keine Chance mehr, wieder auf die Füße zu kommen.

Aus einer anderen Zeugenauss­age spricht Hilflosigk­eit: „Die Mädchen vor mir sind auf einmal so schnell nach unten weggesackt, dass man da gar nicht helfen konnte. Ich habe nur gesehen, die Mädchen gingen runter, und schon war die Lücke wieder zu. Die Menschen wurden dann sofort über diese Mädchen weitergedr­ückt und haben dann auch auf ihnen gestanden.“Im späteren Ermittlung­sbericht der Staatsanwa­ltschaft wird von einem „Menschenbe­rg“gesprochen, der in kürzester Zeit angewachse­n ist. Ein Polizeibea­mter gab bei seiner Vernehmung zu Protokoll, dass er mit seinen 1,90 Meter Körpergröß­e nicht habe drüber hinwegguck­en können.

Als sich die Reihen lichteten, sah Hecker am Boden viele Bewusstlos­e liegen, darunter ein Mädchen, das von einer anderen Frau eine Herzdruckm­assage erhielt. „Weil ich Rettungssa­nitäter bin, habe ich sie sofort abgelöst“, sagt der 51-Jährige. Er versuchte alles, um das Leben des Mädchens zu retten. Aber seine Hilfe kam zu spät. Das Mädchen starb.

Bis heute weiß Hecker nicht, wer sie gewesen ist; er weiß nur, dass sie eine der 21 Toten ist. Auch an das, was danach passiert ist, hat er kaum Erinnerung­en. Er weiß nur noch, wie er anschließe­nd durch den Tunnel gerannt ist. Am Tag danach kam er in seiner Wohnung wieder zu sich. Wie er dorthin gekommen ist, auch das weiß er nicht. „Das Schlimmste aber ist, dass ich kein Gesicht mehr von dem Mädchen habe. Ich habe da nichts mehr vor Augen. Das kommt besonders jetzt beim Prozess wieder hoch, wo man Eltern gegenübers­teht, von denen man genau weiß, die haben eine Tochter verloren“, sagt Hecker.

Auch deshalb hat das Landgerich­t eingewilli­gt, dass sein Therapiehu­nd Moritz mit in den Saal darf.

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FOTOS: CHRISTOPH REICHWEIN Gregor Hecker mit seinem Therapiehu­nd Moritz. Das Tier hilft ihm, das Trauma zu verarbeite­n.

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