Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
Das Haus der 20.000 Bücher
Auch der Verzehr von Bonbons und Schokolade war viele Jahre lang stark eingeschränkt gewesen (die Rationen umfassten 1942 lediglich 56 Gramm pro Person und Woche), ebenso wie der Verbrauch von Butter, Zucker, Eiern und den meisten anderen Grundnahrungsmitteln. Nach dem Krieg war sogar Brot, der wichtigste Bestandteil der britischen Kost, für zwei Jahre rationiert worden, nachdem die Weizenernte durch Unwetter zerstört worden war. Deshalb ist es nicht weiter verwunderlich, dass Mimis tägliche Briefe an Chimen, der Großbritannien 1948 zum ersten Mal wieder verließ, um in Amerika, wo man keine Lebensmittelknappheit kannte, Bücher zu kaufen und zu verkaufen, sich zumeist um die Lebensmittel drehten, die er in die Heimat schicken sollte.
Chimen, der mit seinem frisch ausgestellten britischen Pass reiste (für das Foto hatte er einen Nadelstreifenanzug, eine dunkle Krawatte und ein gestreiftes Hemd gewählt), stach am 6. November 1948 mit dem Cunard-Linienschiff nach New York in See. Seine Passage in einer Gemeinschaftskoje auf dem überbuchten Schiff kam durch die Fürsprache seines Vaters Yehezkel beim Reedereichef zustande. Laut dem Formular des britischen Finanzamts, das hinten in seinen Pass geheftet war, reiste er mit 510 Pfund Sterling sowie mit seltenen, zum Verkauf bestimmten Texten des französischen Revolutionärs Marat und des Zionismusbegründers Theodor Herzl nach Amerika.
Mimi befürchtete, dass sich Chimen einen Schmerbauch anfuttern könne, wenn er auf amerikanische Restaurants losgelassen werde. (Jahrzehnte später berichtete tat-
Mauretania
sächlich einer seiner New Yorker Cousins, wie der kleine Mann aus England ein Reuben-Sandwich nach dem anderen in den Feinkostgeschäften der Stadt verschlungen habe.)
Als der erste Brief meines Großvaters eintraf, rannte mein Vater, damals sechs Jahre alt, in der Küche herum und rief: „Hurra, hurra, Daddy ist in New York!“Er sei, erzählte Mimi, außer sich gewesen vor Freude über die Aussicht, endlich Kaugummi im Hillway eintreffen zu sehen. Unterdessen neckte Mimis Schwester Minna ihren Schwager mit den schönen Frauen, denen er wahrscheinlich im Ausland begegnen werde. Die Schwestern würden, schrieb sie, Jitterbug für ihn tanzen müssen, wenn er von seiner ausgedehnten Reise zurückkehre. Mimi jedoch drückten prosaischere Sorgen. Am 28. Dezember, zehn Tage vor Chimens geplanter Heimreise, ließ meine Großmutter ihn wissen: „Was Lebensmittel angeht, bitte Eier, Obstkonserven, Wurst, Lachs, Hühnerkonserven usw.“Die Wurst, die ihr vorschwebte, durfte selbstverständlich kein Schweinefleisch enthalten. Trotz ihrer mangelnden Religiosität hielten meine Großeltern in ihrer mehr als ein halbes Jahrhundert währenden Ehe strikt an der koscheren Küche fest.
Funktionsfähig wurde der Salon erst durch die Küche, und hier war Mimis Reich. Doch auch Chimen beanspruchte einen Platz an dem resopalbeschichteten Tisch, an dem er mit seinen Enkeln häufig Schach oder russisches Domino spielte. Nicht selten brachte er Gäste mit nach Hause, um Gespräche in der Küche bei einem Becher Tee oder einer Tasse Kaffee fortzusetzen, deren Inhalt Chimen sorgfältig abmaß. Auch herrschte er über das Koffer- radio, das im Laufe der Jahre immer altertümlicher wirkte; die Teleskopantenne war so hoch wie möglich ausgefahren, und es war meistens eingestellt auf Radio 3 (klassische Musik) oder Radio 4 (Nachrichten). Wenn es Zeit war für
oder stellte er feierlich das Radio an. Seine Tochter Jenny, die im Laufe der Jahre bei der BBC Karriere machte, betreute beide Sendungen redaktionell. Während die Schlagzeilen verlesen wurden, mussten seine Gäste mucksmäuschenstill sein.
Rückblickend erscheint mir die Küche als Initiationsort. Manch ein Besucher kam zunächst einfach auf eine Tasse Tee vorbei, vielleicht um Chimen zu einem historischen Thema und bibliografischen Verweisen zu befragen, für die dieser unweigerlich die genaue Seitenzahl herbeizaubern konnte (wonach er das Buch zur Bestätigung in seinen Regalen ausfindig machte). Und dann wurde der Gast zwangsläufig – sofern Chimen nichts an dessen Verständnis von der Welt der Ideen auszusetzen hatte – zum Essen eingeladen. Die Küche war ein Testgelände: War der Gast für den Salon geeignet? Den intellektuell Beweglichen, den Geistreichen und Kultivierten wurden die Türen nacheinander geöffnet: zuerst die der Küche, dann die des Esszimmers und des Wohnzimmers, wo das Gespräch, das am frühen Nachmittag bei einer Tasse Tee in der Küche begonnen hatte, bis weit in die Morgenstunden fortgesetzt werden konnte. Auf diese Weise wurde Chimens Freund aus Oxford, der Historiker Harold Shukman, eingeführt; Shmuel Ettinger hatte ihn Chimen in den späten Fünfzigern auf den Stufen des Britischen Museums vorgestellt, und er war mit seinem neuen Bekannten
One Today, The World at
zwei Stunden durch die Straßen von Bloomsbury spaziert, während sie über die russischen sozialistischen Bewegungen des frühen 20. Jahrhunderts diskutierten. Kurz darauf erhielt er eine Einladung zum Tee im Hillway. Und bald danach begann Mimi ihn zu beköstigen.
Die Küche war in Chimens Tagesablauf von großer Bedeutung. Dennoch hatte ich den Eindruck, dass er, abgesehen von seinen Pflichten an den Spülbecken – das eine für Fleisch-, das andere für Milchgeschirr –, in diesem Raum zumeist nur geduldet wurde. Chimen erkannte den Sachverhalt stillschweigend dadurch an, dass er mit seinen Bücherarmeen nicht in diesen Teil des Hauses einmarschierte (die einzigen anderen Ausnahmen bildeten die Badezimmer). Das Schriftgut in der Küche beschränkte sich im Allgemeinen auf die und das Lokalblatt Zuweilen fanden sich auch der und die auf dem Tisch ein. Doch damit endeten Chimens Überfälle mit dem gedruckten Wort auf Mimis Festung. Wenn ihm die Unterhaltung nicht zusagte, wenn ihn der Klatsch langweilte, den Mimi und ihre Freunde austauschten, wenn ihm die Gäste, die beim Tee mit Mimi plauderten, nicht gelehrt genug waren – und es kam genauso oft vor, dass sie Tee für ein Gespräch mit ihrer betagten Putzfrau Josie kochte, einer karibischen Einwanderin, die noch im Hillway arbeitete, als sie die achtzig schon überschritten haben musste, wie für einen Austausch mit engen Freunden, etwa dem winzigen, doch streitlustigen Ray Waterman.
Times Ham & High. Jewish Chronicle New York Review of Books
(Fortsetzung folgt)