Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
Das Haus der 20.000 Bücher
ber Abraham Garton, einen der ersten jüdischen Drucker, äußerte er: „Ich feierte ihn als den jüdischen Gutenberg. Und ich zog den Hut vor meinem ,alten’ Meister Raschi, der Millionen von Juden dank seiner ausgeprägten Klarheit und beispiellosen Prägnanz erleuchtete.“Während Lunzer es sich leisten konnte, solche Manuskripte zu kaufen, musste Chimen sich in der Regel mit hochwertigen Reproduktionen begnügen. Hin und wieder allerdings überreichte Lunzer seinem Freund feierlich ein Originalmanuskript als Zeichen seiner Wertschätzung. Chimen gab sich peinlich berührt, verstaute das Manuskript jedoch umgehend auf den durchhängenden alten Regalen des oberen Wohnzimmers im Hillway.
Während sich in den frühen sechziger Jahren die Regale dieses Zimmers mit Büchern und Manuskripten füllten, die Hunderte von Jahren zuvor gedruckt und mit dem Pinsel oder per Hand niedergeschrieben worden waren, kam es zur sogenannten Jacobs-Affäre. Nachdem sich die britische Kommunistische Partei 1956 nach dem sowjetischen Einmarsch in Ungarn gespalten hatte, nahm Chimen aktiv an den sich anschließenden Debatten teil. Aber als die Jacobs-Affäre die orthodoxe jüdische Gemeinschaft in Großbritannien entzweite, hielt Chimen sich trotz seiner wachsenden Beschäftigung mit dem Studium der jüdischen Geschichte bewusst zurück und sah stumm zu, wie das britische Judentum auseinanderbrach.
Louis Jacobs war einer der führenden jüngeren Rabbiner des Landes und ein bekannter Gelehrter. Zu einer Zeit, da sowohl der Judaismus als auch das Christentum den wi- derstreitenden Ansprüchen von Tradition und Moderne ausgesetzt waren, sprach Jacobs sich für Letztere aus – wenn auch innerhalb der orthodoxen Tradition. Er war der Meinung, dass die orthodoxe mit der weltlichen Erziehung zusammengefügt werden solle, damit junge Juden in Großbritannien sich mit der Religion ihrer Vorväter auskannten, sich kulturell aber zugleich der breiten Mehrheit des Landes anpassen konnten. Seine Ausführungen nahmen in gewisser Weise die zeitgenössischen Debatten in der katholischen wie in der anglikanischen Kirche vorweg: Er forderte seine Glaubensgenossen auf, die modernen Strömungen anzuerkennen und sich den Wandel zu eigen zu machen, statt ihn instinktiv abzulehnen. Seine Schwierigkeiten mit den orthodoxen Traditionalisten entstanden nach der Publikation seines BuchesWe
(1957), in dem er darlegte, dass der Pentateuch nicht buchstäblich das Wort Gottes sei, wie die Orthodoxen seit Jahrtausenden glaubten; obwohl göttlich inspiriert, enthalte er auch eine menschliche Interpretation von Gottes Willen, wie man ein moralisches Leben führen und die Religion rechtschaffen ausüben könne. Zu einer ähnlichen Schlussfolgerung waren Maimonides achthundert Jahre zuvor und Spinoza im 17. Jahrhundert gekommen. Dennoch löste Jacobs’ Arbeit einen Eklat aus, denn dem erzorthodoxen Rabbinat war es ein Gräuel, die göttliche Urheberschaft der Bibel infrage gestellt zu sehen.
Believe Have Reason to
Jacobs hatte gehofft, zum Rektor des Jews’ College ernannt zu werden, des führenden orthodoxen Seminars für Rabbinerstudenten und Sprungbrett ins Amt des Oberrabbi- ners. Stattdessen musste er nun um sein berufliches Überleben kämpfen. 1961 gab Oberrabbiner Israel Brodie eine Proklamation heraus, die verhinderte, dass Jacobs die Leitung des Jews’ College übernahm, und in den folgenden drei Jahren trugen Jacobs und Brodie einen mehr oder weniger öffentlichen Streit aus. 1964 versuchte Jacobs, auf seinen vorherigen Posten als Rabbiner der New West End Synagogue zurückzukehren. Wiederum griff Brodie ein und verweigerte Jacobs die Genehmigung, in einer Vereinigten Synagoge zu amtieren. Kurz darauf griff Chimens Vater in die Auseinandersetzung ein und leistete dem Oberrabbiner Beistand.
Yehezkel Abramsky hatte sich längst aus dem Beth Din zurückgezogen und lebte in Israel, wo er vor riesigen Anhängerscharen einmal wöchentlich Vorträge zum Talmud hielt; dennoch half er aus der Ferne, den Kampf gegen Jacobs zu organisieren. Während dieser, wie Spinoza, für eine kritischere Haltung zu religiösen Bräuchen und zur Rolle des Rituals eintrat, hielt Yehezkel am orthodoxen Verständnis der Thora fest, der man als dem buchstäblichen Wort Gottes in allen Einzelheiten zu gehorchen habe. Nach seiner Ausbildung an den MussarJeschiwas hatte Yehezkel seine Äußerungen nie den sich ändernden Konventionen angepasst und nur selten Grund gehabt, an seinem Standpunkt zu zweifeln. Eine der wenigen Ausnahmen stellte ein Ereignis Jahre zuvor in Weißrussland dar, als ein Kranker ihn fragte, ob er an Jom Kippur ein Glas Wasser trinken dürfe. Rabbi Abramsky hatte ihm die Bitte abgeschlagen, und der Mann war kurz darauf gestorben. Ob diese Entscheidung letztlich zu seinem Tod geführt hatte, war jedoch unerheblich, denn Yehezkel fühlte sich schuldig. Sein Biograf berichtet, Yehezkel habe, während er im Moskauer Butyrka-Gefängnis auf die Vollstreckung des über ihn verhängten Todesurteils wartete, eine Bilanz seines Lebens gezogen und dies als eine der Handlungen eingestuft, für die Gott ihn bestrafe. Letztlich war das Todesurteil, wie wir wissen, nicht vollstreckt worden, und Yehezkel hatte reichlich Gelegenheit gehabt, Wiedergutmachung für seine Jom-Kippur-Entscheidung zu leisten. Als Dajan mochte er streng sein, dennoch galt er weithin als gütig und nachsichtig. Im Hinblick auf Jacobs allerdings sah er keinen Grund, von seinen Überzeugungen abzugehen. In seinen Augen war dieser ein Emporkömmling, ein Neuerer, der gegen Ideen und Traditionen aufbegehrte, die in Jahrtausenden sorgsam ausgearbeitet worden waren. Die Historikerin Miri Freud-Kandel nimmt an, Yehezkel habe Jacobs für einen „Agitator“gehalten. Für ihn war es einfach undenkbar, dass Jacobs die Rabbinerleiter so weit hinaufsteigen und tatsächlich als Kandidat für das Amt des britischen Oberrabbiners infrage kommen könnte. Yehezkel und andere, die seine Ansichten teilten, brandmarkten Louis Jacobs als Ketzer. Man verwehrte ihm nicht nur den Rektorenposten am Jews’ College, sondern nahm ihm auch die Möglichkeit, je wieder als Rabbiner einer Vereinigten Synagoge zu dienen, nachdem der Oberrabbiner und führende religiöse Persönlichkeiten wie mein Urgroßvater Einspruch erhoben hatten. (Fortsetzung folgt)