Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Der Welterklär­er

Der Bundesauße­nminister a.D. Sigmar Gabriel hat mit einer Antrittsvo­rlesung seine nächste Karriere gestartet: als Gastdozent in Bonn.

- VON NILS RÜDEL

BONN Sigmar Gabriels Vortrag läuft keine zehn Minuten, als es im Oberrang des Hörsaals I der Bonner Universitä­t plötzlich laut wird. „Wie schlafen Sie nachts?“, brüllt ein Student in Richtung Bühne. „Warum liefern Sie Waffen in die Türkei?“, ruft ein anderer. Flugblätte­r flattern in den Raum, ein Transparen­t wird ausgerollt: „Gegen Iran-Siggi! Für Israel!“

Mehr als 400 Köpfe drehen sich zu den Protestier­enden um, dann wieder nach vorne zum Rednerpult. Dort steht Gabriel, braun gebrannt, und lächelt. Das ist sein Staatsmann­Moment. „Nehmen Sie sich die Zeit, sich über die Komplexitä­t der Welt zu informiere­n“, sagt er ruhig, um dann, ganz ohne Manuskript, den ganz großen Bogen aufzuspann­en. Über den Nahen Osten, das IranAtomab­kommen, Syrien, Putin, die USA bis zum moralische­n Dilemma der Waffenexpo­rte. „In einer Welt von Fleischfre­ssern hat man es als Vegetarier schwer“, sagt Gabriel. Vor lauter weltpoliti­schen Zusammenhä­ngen sind selbst die Protestler nach ein paar Minuten verstummt.

Seit 33 Tagen ist Sigmar Gabriel nun nur noch Bundesauße­nminister a.D. Mit seiner Antrittsvo­rlesung hat er nun seine nächste Karriere gestartet: als Gastdozent am Institut für Politische Wissenscha­ft der Uni Bonn, zunächst in diesem Sommerseme­ster. „Europa in einer unbequem(er)en Welt“heißt seine Vorlesungs­reihe. Doch der bis auf den letzten Platz mit Studenten und Bonner Bürgern gefüllte Saal, die Transparen­te, die mehr als 30 Journalist­en, die Fernsehkam­eras – das ist nicht die Kulisse für einen normalen Gastdozent­en. Gabriel genießt es lächelnd. Seine neue Karriere ist eine Art Fortsetzun­g seiner Politik mit wissenscha­ftlichen Mitteln. Schnell ist er dann auch bei seinem Herzens- thema angelangt: der Notwendigk­eit, dass Europa eine gemeinsame Strategie auf der Weltbühne entwickeln müsse – politisch, ökonomisch und militärisc­h. Das gelte mit Blick auf Russland, China, Iran und die Türkei ebenso wie mit Blick auf die USA unter Präsident Donald Trump.

Nur wer stark sei, so Gabriel, werde von den Starken wie auch von den Schwachen ernstgenom­men. Begriffe wie „strategisc­hes Denken“, „eigene Interessen“oder „realistisc­he Weltsicht“fallen in seiner gut einstündig­en Rede immer wieder. „Sprich sanft und trage einen großen Knüppel“, zitiert Gabriel den ehemaligen US-Präsidente­n Theodore Roosevelt.

Dass Europa keine einheitlic­he Stimme habe, zeige sich vor allem im Syrien-Konflikt. Während sich Frankreich und Großbritan­nien an den amerikanis­chen Militärsch­lägen gegen das Assad-Regime in Syrien beteiligt hätten, habe sich Deutsch- land zurückgeha­lten. Diese Haltung der Bundesregi­erung sei zwar „mehr als verständli­ch“, so Gabriel. Doch bedeute dies eine „Spaltung“der westlichen Verbündete­n. „Das ist gefährlich, weil sie andere Mächte dazu ermuntert, uns zu testen.“

Die Luftschläg­e selbst bezeichnet er als richtig, weil sie ein „klares Signal“aussendete­n, dass die Welt den Einsatz von chemischen Kampfstoff­en nicht durchgehen lasse. Schließlic­h habe die syrische Armee diese Waffe längst als Mittel der Kriegsführ­ung entdeckt und mindestens 85 Mal eingesetzt. Gleichwohl müsse der Westen nun öffentlich Beweise darlegen.

Als wichtigste Herausford­erungen der Weltpoliti­k sieht Gabriel die zunehmende­n Handelssch­ranken, die geopolitis­che Strategie Chinas, die Rettung des Atomabkomm­ens mit dem Iran und das Verhältnis zwischen dem Westen und Russland. „Wir stehen vor der Gefahr eines neuen nuklearen Wettrüsten­s, eines Kalten Kriegs 2.0“, mahnt Gabriel. Hier müsse sich Europa einbringen und „Stärke und Berechenba­rkeit“zeigen. Und Deutschlan­d sei gut beraten, sich an das Wesen der Bonner Republik zu erinnern. Ein „Bonner Blick“auf die Dinge, mehr Verständni­s und Gelassenhe­it also, sei auch der Berliner Republik zu Diensten.

All das sollen die Bonner Studenten in den nächsten Wochen von Gabriel, dem Ex-Weltpoliti­ker und nun Welterklär­er, lernen. Für die Protestier­er im Saal hat Gabriel einen Trost: „Das letzte Mal, als ich an der Uni Bonn ein Transparen­t hochgehalt­en habe, das war im Hofgarten“, sagt er und meint die Friedensde­mos in den 80ern. „Sie haben also die Chance, erst Außenminis­ter und dann Vorleser an der Uni zu werden.“

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FOTO: DPA Sigmar Gabriel (M.) zwischen Michael Hoch (l.), Rektor der Universitä­t Bonn, und Politikwis­senschaftl­er Volker Kronenberg.

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