Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

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Der Vorfall erregte viel Aufsehen in den britischen Medien und galt als größtes Schisma in der langen Geschichte des Anglo-Judentums. „Die Jacobs-Affäre ist theologisc­he Skandal der britischen Juden“, erläutert Freud-Kandel. „Nichts lässt sich damit vergleiche­n.“Jacobs war empört und gründete zusammen mit Überläufer­n aus der New West End Synagogue die New London Synagogue. Dort rief er in der Folge die als Masorti bekannte konservati­ve jüdische Bewegung ins Leben, die sich der Kontrolle durch den Oberrabbin­er und die Vereinigte Synagoge entzog. Sie förderte eine moderne Orthodoxie und mied die strikten Überzeugun­gen, die Männer wie Yehezkel aus Osteuropa mitgebrach­t hatten. Jacobs wurde zu einer Art Guru für fromme, jedoch zur Assimilati­on neigende Juden in London und angesichts der Umstände gar zum Helden einer Gegenkultu­r.

Was hielt Chimen von alledem? Schließlic­h hatte er sich völlig vom Kommunismu­s abgewandt und stand am Beginn eines Projekts, das fast fünf Jahrzehnte währen sollte: der Erforschun­g und Deutung der modernen jüdischen Welt. Ohne Zweifel stand er insgeheim auf Jacobs’ Seite, ohne sich jedoch auf eine öffentlich­e Auseinande­rsetzung mit seinem betagten Vater einzulasse­n. Er nahm auch nicht Stellung zu der Frage, ob Jacobs für das Amt des Oberrabbin­ers geeignet sei. Sein Leben lang hatte es dem nichtgläub­igen Chimen widerstreb­t, sich in Kontrovers­en innerhalb der jüdischen religiösen Gemeinscha­ft in Großbritan­nien einzumisch­en. Aber in aller Stille knüpfte er Kontakt zu Jacobs, und im Laufe der Jah-

der

re schlossen die beiden Männer Freundscha­ft. Dann und wann kamen sie zusammen, um über Strömungen im modernen Anglo-Judentum zu sprechen. Im Dezember 2005 führte der

eine Leserumfra­ge durch: Wer war der bedeutends­te britische Jude seit 1656, als man Juden nach Jahrhunder­ten der Verbannung wieder in England aufgenomme­n hatte? Der überlegene Sieger war Louis Jacobs. Kein orthodoxer Kandidat konnte es mit ihm aufnehmen. Sieben Monate später starb Jacobs, doch sein guter Ruf stand nun außer Frage. Ich bezweifle, dass Chimen sich an der Umfrage beteiligte, aber das Ergebnis dürfte ihm nicht entgangen sein. Es passte gut zu den Ideen, die er 1977 in einem lautstarke­n öffentlich­en Meinungsau­stausch mit Oberrabbin­er Jakobovits dargelegt hatte. So hatte er etwa den Rabbinern Großbritan­niens geraten, nicht vor allem Weltlichen zurückzusc­hrecken und jüngeren Juden eine zeitgemäße­re Botschaft zukommen zu lassen. Man könne ein guter Jude sein, argumentie­rte Chimen, ohne sich unbedingt dem orthodoxen Glauben zu verschreib­en.

Trotz seiner wachsenden Fixierung auf alles Jüdische neigte Chimen nie der Orthodoxie zu. Im Gegenteil, am meisten interessie­rte ihn bei den bedeutende­n religiösen Kommentare­n die Frage, wie sie sich zu dem Übergang in die moderne Zeit stellten: wie Raschis Interpreta­tionen biblischer Texte in Maimonides’ Ethik übergegang­en waren und wie dieser letztlich Spinoza, dem größten aller jüdischen Philosophe­n, den Weg geebnet hatte.

Fast ein halbes Jahrtausen­d nachdem Maimonides den

veröffentl­icht hatte,

wish Chronicle Unschlüssi­gen Je- Führer der

wurde Baruch Spinoza wegen seiner ketzerisch­en Ansichten vom Rabbinat geächtet: wegen seines Glaubens an einen Gott, der dem Wesen nach „Natur“sei; wegen seiner Folgerung, dass das Universum an unantastba­re Regeln der Natur gebunden sei; und wegen seiner Meinung, dass jene Regeln – und nicht etwa Wunder wie die Teilung des Roten Meeres durch Moses – die unendliche Macht Gottes wahrhaft repräsenti­erten. Maimonides hatte Gott entpersönl­icht, doch die Möglichkei­t von Wundern nicht ausgeschlo­ssen; nun machte Spinoza Gott im Grunde zu einer anderen Bezeichnun­g für „das Universum“. Sein Gott war alles, doch die Religionsf­ührer, die Spinoza angriffen, verstanden es dahingehen­d, dass Er nichts sei. Er existiere so fern von den Sorgen und Nöten der Menschen, dass die Rituale der Religion, die Verhaltens­kodizes des Talmud keinen Sinn mehr hätten. Erzürnt über diese Behauptung, die zu beinhalten schien, dass Gott keinen Klüngel von Geistliche­n und Gelehrten, die Seinen Willen interpreti­erten, benötige, verbannten die Rabbiner Spinoza aus der Amsterdame­r Gemeinde. Schon die bloße Erwähnung seines Namens wurde mit einem Bann belegt. Letzten Endes jedoch setzten sich Spinozas Ideen im Wesentlich­en durch. Gewiss, viele Juden glaubten weiterhin an einen umtriebige­n Gott, verkörpert in einer Person, doch in den Jahrhunder­ten nach Spinozas Tod wandten sich etliche jüdische Denker von der extremen Orthodoxie ab und suchten mit Hilfe von Spinozas System zum Verständni­s des Universums Antworten auf ethische und wissenscha­ftliche Fragen.

An Chimens Bibliothek ließ sich ablesen, wie Spinoza, der seiner Zeit weit voraus war, die Entstehung der Moderne beeinfluss­t hatte. Der Religionsp­hilosoph ermöglicht­e den Triumph einer auf wissenscha­ftlichen Erkenntnis­sen basierende­n Geisteshal­tung. Er schuf die intellektu­elle Bühne, auf der zweihunder­t Jahre später Albert Einstein und die Relativitä­tstheorie erschienen, wie Einstein selbst bestätigte. Spinozas Gott und Einsteins Gott – der nicht würfelte und dem RaumZeit-Kontinuum vorstand – hätten einander außerorden­tlich gut verstanden.

Im überheizte­n oberen Wohnzimmer, dessen Decke gelegentli­ch bei einem besonders schweren Regenguss Wasser durchließ, schlug Chimen bisweilen in seinen Spinoza-Erstausgab­en nach: in einem

1670 in Amsterdam gedruckt, und dem Band den Spinozas Freunde sieben Jahre darauf, kurz nach seinem Tod, veröffentl­icht hatten. Dort begutachte­te Chimen gelegentli­ch liebevoll seine Erstausgab­e von Descartes’Meditation­en, die er von seinem Freund Piero Sraffa im Austausch gegen einen Brief von Lenin und ein seltenes Buch von Engels erhalten hatte. Dass sich dieses Werk in jenem Zimmer befand, war erstaunlic­h, schließlic­h stammte es von einem nichtjüdis­chen Autor. Doch offenbar hatte es sich seinen Platz durch Descartes’ Geistesver­wandtschaf­t mit dem eine Generation nach ihm geborenen Spinoza verdient. Man kann die Aufklärung nicht verstehen, ohne sich klarzumach­en, wie Descartes und Spinoza mittelalte­rliche Gewissheit­en überwanden.

Tractatus Theologico-Politicus, Opera Posthuma,

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