Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
Das Haus der 20.000 Bücher
Vorher war er in der Siegfried-Sammlung, Frankfurt, Baer-Verkauf, Januar 1922, Los 3, 90 Mark. Ihm fehlen zwei Blätter nach Folio 17, Blatt 61 wurde nachträglich ersetzt, und das Gebet am Ende ist einzigartig. Heutzutage ist er 63.000 bis 67.500 Pfund wert.’ Mein ganzer Besuch hatte, großzügig geschätzt, ungefähr vier Sekunden gedauert.“
Chimen erinnerte Saidi an eine „Hummel, die von einem Ort zum anderen schwirrt. Er konnte es nicht ertragen, bei einer Sache nicht mitzumischen. Wenn er nichts von einem Buch wusste [das zum Verkauf stand], geriet er völlig außer sich. Gelassenheit war nicht seine Stärke. Es muss sehr schwierig für Miriam gewesen sein, ihn im Griff zu behalten. Er tat viele Dinge gleichzeitig und war überall“. Ich stelle mir meinen hyperaktiven Großvater vor, wie er von Ort zu Ort, von Buch zu Buch braust. Als musikalische Begleitung höre ich die letzten Minuten von Dmitri Kabalewskis rasender Orchestersuite
in denen die Streicher und Bläser in einem Rausch explosiver Energie miteinander wetteifern. Schneller und schneller, wieder und wieder beschwören die Noten das Chaos und das Wunder der modernen Zeit herauf.
In diesem Zimmer also lagerten die wertvollsten hebräischen Manuskripte und Bücher. Sie waren der Quell für Jahrhunderte vielfältiger, wenn auch heute undurchsichtiger Talmud-Forschung; daraus hatten sich die großen Jeschiwas entwickelt, die Yehezkel geprägt hatten; und aus diesen war schließlich die Haskala, die jüdische Aufklärung, hervorgegangen und mit ihr die Bestrebungen, die osteuropäischen
nten, Die Komödia-
Juden in der säkularen Welt und in der säkularen Geschichte zu verwurzeln, welche die menschliche Gesellschaft seit dem 18. Jahrhundert so radikal umgestaltete. Etwas von jeder dieser Ideen steckte auch in Chimen.
Im oberen Wohnzimmer des Hillway starb 1988 Shmuel Ettinger, der aus Israel zu Besuch gekommen war, eines Nachts an einem Herzinfarkt. Ich erinnere mich an Chimens fassungslose Miene, als er am folgenden Tag davon erzählte. Zum ersten Mal kam er mir wie ein sehr alter Mann vor. Benommen. Überwältigt. Eingefallen. Ettinger war wie ein Bruder für ihn gewesen, ein Seelenverwandter seit über einem halben Jahrhundert, nachdem sie einander vor dem Krieg an der Hebräischen Universität in Jerusalem kennengelernt hatten.
Für einen Mann, der stärker zu Selbstmitleid neigte, hätte ein solcher Verlust niederschmetternd sein können. Aber Chimen ließ nicht zu, dass der Schmerz ihn zerstörte. Er trauerte um Ettinger, schrieb über ihn und schaffte es dann, nach vorn zu blicken. Wenn es ihm schon beschieden war, seine Zeitgenossen zu überleben, dann musste er seinen sich lichtenden Freundeskreis mit Jüngeren aufstocken, zum Beispiel mit Wissenschaftlern wie Dovid Katz und Journalisten wie David Mazower, die nun häufiger in den Hillway kamen, um vom Meister zu lernen.
Ganz bewusst nutzte Chimen seine Bücher und sein enormes, einzigartiges Wissen, um frischen Wind in sein Leben zu bringen und anderen Menschen, mit denen er reden und debattieren konnte, die Tür seines Hauses zu öffnen. „Es war so anregend für mich, bei einem Buchwissenschaftsexperten für mein Fachgebiet zu studieren, bei einem Mann, der so meisterhaft in der Buchwissenschaft beschlagen war. Er kannte nicht nur sämtliche wissenschaftlichen Werke und Zeitschriften der osteuropäischen Jiddistik (besonders der Philologie) aus der Zeit vor dem Holocaust, sondern er besaß die meisten sogar“, erzählte Dovid Katz, ein in Oxford ansässiger New Yorker, der später in die litauische Hauptstadt Wilna zog, um die Geschichte der jiddischen Sprache und Kultur an Ort und Stelle zu erforschen. Wann immer Katz in London Station machte, kam er in den Hillway, um stundenlang mit Chimen zu diskutieren. Er behauptete, Jiddisch sei eine quicklebendige Sprache, während Chimen dagegenhielt, es sei so gut wie tot. Katz war einer der wenigen, denen Chimen bisweilen Zugang zu seinem Allerheiligsten, das heißt zu einigen Büchern im oberen Wohnzimmer, gestattete. „Eines der ersten [Werke], die er mir zeigte“, schrieb Katz, „war das der christliche Autor (und Missionar) Elias Schade (oder Schadaeus) 1592 veröffentlicht hatte. Es enthielt eine Beschreibung des Jiddischen, die für Linguisten bis heute relevant ist. Ich fiel fast in Ohnmacht, als er sagte, ich könne die Seiten, die ich benötigte, gern fotokopieren und ihm das Buch dann zurückgeben. Er bemerkte meine Reaktion und sagte: ,Sehen Sie, ich vertraue Ihnen.’“
Wie so viele Menschen im Laufe der Jahrzehnte wurden Katz und die anderen jungen Wissenschaftler, die den Salon in den siebziger und achtziger Jahren besuchten, unwiderstehlich vom Hillway angezogen: Sie befassten sich nicht nur mit seltenen Büchern, sondern blieben auch zum Essen. Und so wie flackernde Kerzen, die doch nicht erlö-
Mysterium,
schen, erwachten Mimis Küche und Esszimmer zu neuem Leben. So viele ihrer ursprünglichen Gäste hatten Mimi und Chimen verloren: aus politischen Gründen oder weil sie in alle Welt gezogen oder einfach mit der Zeit fortgeblieben waren. Die neuen Besucher kamen, um zu lernen, und nachdem Chimen ihnen kleine Porzellantassen mit Kaffee sowie ein Stück Apfelstrudel oder Rührkuchen gereicht hatte, setzten sie ihre Gespräche fort. Bald erschienen sie regelmäßig und wurden so herzlich im Haus empfangen wie Shmuel Ettinger oder Abby Robinson in früheren Jahren. Mimi, nun zunehmend durch Diabetes beeinträchtigt, kochte für sie, wie sie es schon für Generationen von Wissenschaftlern vor ihnen getan hatte. Es war eine gewaltige Anstrengung, doch sie konnte es einfach nicht ertragen, keine Gastgeberin zu sein. Und wenn die Enkel zu Besuch kamen, wurden sie genauso in die Gespräche miteinbezogen wie früher.
„Ich kam wegen eines Buches zu ihm“, erinnerte sich Marion Aptroot, eine niederländische Jiddistin, die Ende der achtziger Jahre in Oxford ihre Doktorarbeit schrieb. Sie versuchte, die Erstausgabe einer jiddischen Bibel aufzuspüren, die 1679 in Amsterdam gedruckt worden war. Doch trotz gründlicher Suche konnte sie nur die zweite Auflage finden, die ganz kurz nach der ersten Fassung erschienen war. Sie vermutete, dass es eine Reihe von Textabweichungen gab. In keiner der Bibliotheken, in denen das Buch hätte stehen können, war es vorhanden.