Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
Europas neue Allzweckwaffe
WASHINGTON/BERLIN Der Saal im Hauptquartier des Internationalen Währungsfonds (IWF) ist bis auf den letzten Platz gefüllt, das Podium hochkarätig besetzt. IWF-Chefin Christine Lagarde höchstselbst hat die Moderation der Podiumsdiskussion zur Zukunft der Euro-Zone übernommen. Alle hier in Washington sind neugierig darauf, wie die Europäer verhindern wollen, dass der Euro wie in der Finanzkrise ab 2009 erneut infrage steht. Die Blicke sind auf Olaf Scholz gerichtet, den neuen Bundesfinanzminister, der die größte Euro-Volkswirtschaft vertritt. Doch Scholz weicht allen konkreten Fragen Lagardes aus. Er bleibt so vage, dass es fast ein wenig peinlich ist. Immerhin zitiert er den berühmten USPhilosophen John Rawls, dessen wichtigste Botschaft Scholz so verstanden hat: Man solle als Politiker immer so denken, als wache man am nächsten Tag als ein anderer auf – zum Beispiel als italienischer Finanzminister.
Scholz deutet damit auf der IWF-Tagung vergangene Woche zumindest an, wie offen die neue Bundesregierung für umstrittene Veränderungen ist. Die Linie dafür gibt der Koalitionsvertrag vor, in dem sich die neue Groko deutlich europafreundlicher zeigt als die alte. Doch Berlin läuft gerade die Zeit davon. Es muss auf die schon im September präsentierten Vorschläge des französischen Präsidenten Emmanuel Macron zur Reform der Euro-Zone bald reagieren. Schon auf dem EU-Gipfel im Juni sollen Vorentscheidungen fallen.
Dabei strebt Berlin wieder einmal einen Interessenausgleich mit Frankreich und zwischen Nord- und Südeuropäern an. Zu weit dürfen Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und SPD-Vizekanzler Scholz dabei aber nicht gehen, denn die europakritische AfD ist auf dem Vormarsch – und schürt damit auch den Widerstand gegen finanzielle Abenteuer in der Unionsfraktion. 60 Unions-Ab- weichler wie in der letzten Legislaturperiode kann sich die kleiner gewordene Koalition nicht leisten.
Es geht um eine Gratwanderung und um eine Kompromisslösung, die sowohl in der Euro-Zone als auch im Bundestag mehrheitsfähig ist. Den Kern dieser Lösung meinen Merkel und Scholz gefunden zu haben: Anders als von Macron und Lagarde gefordert, soll es keine neuen Extra-Geldtöpfe für gemeinsame Investitionsprojekte (Stichwort „Euro-Budget“) oder Krisenfälle (Stichwort „Schlechtwetter- oder Notfallfonds“) geben. Stattdessen soll der schon existierende Euro-Rettungsschirm ESM zu einer Art Allzweckwaffe der Euro-Zone ausgebaut werden. Der Name dafür steht schon fest: Der ESM mit Sitz in Luxemburg soll künftig „Europäischer Währungsfonds“(EWF) heißen und ähnlich wie der IWF nicht nur in Krisenfällen einspringen, sondern auch weitere stabilisierende Aufgaben im Euro-Raum schultern.
Schon in der Finanzkrise störte viele in Europa, dass die Staatengemeinschaft auf den von den USA gesteuerten IWF zurückgreifen musste, um Griechenland und andere Länder vor der Staatspleite zu retten. Zwischenzeitlich wurde zwar der mit 700 Milliarden Euro gefüllte ESM gegründet, der die Rettung im Krisenfall übernimmt. Doch der ESM reicht Macron, Lagarde und anderen noch nicht, um den Euro dauerhaft zu stabilisieren.
Sollten einzelne Euro-Mitglieder wieder in Schwierigkeiten geraten, so argumentieren sie, könne die Europäische Zentralbank (EZB) für diese Länder keinen niedrigeren Sonderzins festlegen, weil die EZB immer für den Währungsraum als Ganzes verantwortlich sei. Dann müssten neue finanzpolitische Instrumente her, um solche so genannten asymmetrischen Schocks auszubügeln. Darüber hinaus möchte Macron mehr Gleichschritt im Euro-Raum herstellen und das gemeinsame Wachstum ankurbeln – vor allem durch mehr ge-
„Wir sollten immer so denken, als wachten wir am nächsten Morgen als ein anderer auf“
Olaf Scholz (SPD)