Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
Weniger Agrar, mehr Sicherheit
Deutschland soll zwölf Milliarden Euro mehr pro Jahr an die EU zahlen. Laut einer Studie wäre das gut angelegt, wenn Brüssel umschichtet.
BRÜSSEL Elf bis zwölf Milliarden Euro pro Jahr soll Deutschland nach den Vorstellungen von EU-Haushaltskommissar Günther Oettinger von 2021 an zusätzlich in die EUKasse zahlen – eine Ankündigung, für die Oettinger im politischen Berlin vergangene Woche keinen Beifall erhielt. Europa müsse künftig viel mehr in die Sicherung seiner Außengrenzen und in Forschung investieren, das sei gerade auch im deutschen Interesse, argumentierte Oettinger. Zudem reiße der britische EU-Austritt ein Zwölf-Milliarden-Euro-Loch in den EU-Haushalt. Mindereinnahmen und Mehrausgaben will der deutsche Kommissar zur Hälfte durch Einsparungen, zur Hälfte durch höhere EUBeiträge decken. Von Wirtschaftsforschern erhält er für diese Pläne jetzt Rückendeckung – und wertvolle Finanzierungstipps.
In Europa ist die Finanzplanung eine komplizierte Sache, schließlich müssen ihr am Ende 27 Mitgliedstaaten zustimmen. Der nächste Finanzrahmen bestimmt die EU-Politik zwar erst in den Jahren 2021 bis 2027, doch schon jetzt beginnen die Verhandlungen, weil sie bis zu zwei Jahre dauern können. Oettinger will den neuen mehrjährigen Finanzrahmen nutzen, um zumindest ansatzweise neue Akzente zu setzen, die Europas Zukunftsfähigkeit verbessern sollen: Er will den enormen Haushaltsanteil für Agrar- und Strukturhilfen von derzeit 70 bis 80 Prozent verringern, um mehr für den Grenzschutz, Verteidigung und Digitalisierung auszugeben.
Damit hat er Länder wie Frankreich gegen sich aufgebracht, in denen die Landwirtschaft traditionell einen besonders hohen Stellenwert hat. Auch Süd- und Osteuropäer laufen Sturm, weil sie genauso viel wie bisher aus der EU-Kasse für ihre strukturschwachen, armen Regionen einstreichen wollen. Polen und Ungarn sind zudem nicht einverstanden, dass Oettinger Überweisungen künftig stärker an die Einhaltung gemeinsamer Regeln knüpfen will. Und reichere Länder wie die Niederlande oder Österreich haben sofort erklärt, dass sie anteilig Bundesfinanzminister Olaf Scholz (l.) und EU-Haushaltskommissarar Günther Oettinger keinen Cent mehr in die EU-Kasse zahlen wollen.
In Deutschland meldete sich vor allem die CSU, die zusätzliche Zahlungen an die EU von zwölf Milliarden Euro ablehnte. Die anderen Regierungsparteien hielten sich zurück. Schließlich hatten sie im Koalitionsvertrag zugesagt, künftig mehr nach Brüssel überweisen zu wollen. Zudem ist das Jahr 2021 aus Berliner Sicht noch weit entfernt. In seiner Finanzplanung hat Finanz- minister Olaf Scholz (SPD) höhere Beiträge an die EU jedenfalls noch nicht vorgesehen. Die Steuerschätzung kommende Woche dürfte eher Wasser auf die Mühlen derer sein, die Europa mehr Geld geben wollen: Die Einnahmenprognose für die Jahre 2018 bis 2022 wird nach Informationen unserer Redaktion deutlich besser ausfallen als die letzte Schätzung vom November – und auch besser als die interne Prognose des Finanzministeriums vom Früh- jahr, die in der aktuellen Etatplanung für 2018 bereits enthalten ist. Laut „Handelsblatt“werden die Steuerschätzer in den fünf Jahren Mehreinnahmen von insgesamt 60 Milliarden Euro prognostizieren.
Für Oettinger wird das eine gute Nachricht sein. Forscher des Kölner Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) unterstützen zudem den von ihm eingeschlagenen Weg. Der hohe Anteil der Agrar- und Strukturausgaben im EU-Haushalt sei „ana- chronistisch“, heißt es in einer unveröffentlichten IW-Studie, die unserer Redaktion vorliegt. Denn der Anteil der Land- und Forstwirtschaft sowie der Fischerei an der gesamten EU-Bruttowertschöpfung liege heute nur noch bei 1,6 Prozent.
Hinzu komme, dass die EU die Finanzierungslücke durch den Brexit stopfen müsse und zu Recht neue prioritäre Aufgaben definiert habe. „Die EU-Kommission darf sich von den üblichen politischen Widerständen nicht beirren lassen, sondern muss ordnungspolitische Gradlinigkeit zeigen und die veränderte geopolitische Lage dazu nutzen, den Finanzrahmen endlich auf eine ökonomisch sinnvolle Basis zu stellen“, schreiben die IW-Autoren Jürgen Matthes und Berthold Busch. Für die Agrarpolitik gebe die EU zwischen 2014 und 2020 insgesamt 400 Milliarden Euro aus, für Strukturhilfen weitere 370 Milliarden. Würden die Ausgaben von zusammen 770 Milliarden Euro nur um ein Prozent gekürzt, stünden 7,7 Milliarden Euro mehr für andere Zwecke zur Verfügung. Damit wäre etwa der Ausfall durch den Brexit schon zu elf Prozent finanziert.
Eine weitere Möglichkeit für Oettinger wäre, das erwartete Wirtschaftswachstum stärker zu berücksichtigen. Schreibe man die Konjunkturprognosen der EU fort, dürfte ihre Wirtschaftsleistung von 2021 bis 2027 um insgesamt 28 Prozent wachsen, so das IW. „Würden die EU-Ausgaben für die Agrar- und Kohäsionspolitik auf dem aktuellen Stand eingefroren, entstünde durch das Wirtschaftswachstum ein Puffer von 220 Milliarden Euro, die für die Umschichtung (der Ausgaben in Zukunftsbereiche, d. Red.) genutzt werden könnten.“