Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Der Wert des Privaten

- VON DOROTHEE KRINGS

ANALYSE In den sozialen Netzwerken wird viel Persönlich­es geteilt. Die Grenzen des Privaten haben sich verschoben. Umso wichtiger sind Räume, in denen sich der Einzelne entfalten kann – geschützt, unbeobacht­et, frei.

Menschen, bei denen eingebroch­en wurde, sagen hinterher oft, das Schlimmste sei gar nicht das geknackte Fenster oder der Verlust vonwertgeg­enständen. Das Schlimmste sei das Gefühl, „dass da einer war“. Dass jemand ohne Erlaubnis, ohne Kontrolle, in Räume eingedrung­en ist, die als Rückzugsor­t dienen, als Nest, als unbeobacht­ete Sphäre. Als der sichere Ort, an dem man ist, wer man ist. Und im Schlafanzu­g am Tisch sitzt. Und die Toilettent­ür nicht schließt.

Natürlich gehört zu diesem schützensw­erten Raum auch, was man denkt und privat äußert. Zwar haben im digitalen Zeitalter viele Menschen Spaß daran, Persönlich­es wie Urlaubsfot­os, das tolle Essen im Restaurant oder die eigenen Mühen im Fitness-studio über soziale Netzwerke zu teilen. Aber darüber entscheide­n sie selbst. Die Grenzen des Privaten mögen sich also verschoben haben, nicht aber die Notwendigk­eit dafür, dass es weiterhin geschützte Bereiche geben sollte: Lebens- und Denkräume, die unangetast­et bleiben und auf deren Schutz der Einzelne sich verlassen kann. Gewisse Nachrichte­n teilt man eben nicht mit allen. Gewisse Fotos gibt man nicht preis. Die Inhalte müssen gar nicht pikant sein, sie sind nur nicht für alle gedacht. Und es sollte der Einzelne sein, der darüber entscheide­t.

So haben prominente Menschen, die vom jüngsten Hacker-angriff getroffen wurden, wie der Grünen-politiker Robert Habeck, womöglich nur Belanglosi­gkeiten ausgetausc­ht. Doch das ist nicht die Frage. Die Tatsache, dass persönlich­e Daten und vertraulic­he Dialoge in die Öffentlich­keit gezerrt wurden, verletzt den sensiblen Bereich, den wir Privatheit nennen.

Wie kostbar dieser Schutzraum ist, zeigt die rechtliche Stellung des Privaten in demokratis­chen Staaten. Privatsphä­re wird da als ein Raum definiert, in dem sich der Einzelne entfalten kann, und so ist er durch das allgemeine Persönlich­keitsrecht geschützt. Auch vor dem Gesetz kann dieser Raum das familiäre Heim sein, umfasst aber auch, was man nicht mit Händen greifen kann: die private Kommunikat­ion und das Denken und intime Empfinden von Menschen. „Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlich­keit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassung­smäßige Ordnung oder das Sittengese­tz verstößt“, heißt es im Grundgeset­z. Das Private ist also mit der Wertschätz­ung des Individuum­s verbunden, es steckt den Raum ab, in dem die Gedanken völlig frei sind, Menschen sich ausprobier­en, ohne Rechenscha­ft ablegen zu müssen. Diese Entfaltung gilt als ein zutiefst menschlich­es Bedürfnis – das Recht darauf als Teil der menschlich­en Würde.

Mit den neuen Kommunikat­ionskanäle­n, den sozialen Netzwerken, den Foto-plattforme­n sind Hemmungen geschwunde­n, Szenen aus dem eigenen Leben auch mit einem größeren Personenkr­eis zu teilen. Die Verlockung zur Selbstdars­tellung ist groß. Doch die Tatsache, dass viele enger fassen, was ihnen als wirklich privat gilt, bedeutet noch nicht, dass dieser Bereich weniger streng geschützt werden müsste. Das Private ist nötiger denn je, denn es kann Pause von Selbstdars­tellung und Eigenverma­rktung bieten und Erholung mit dem unverstell­ten Ich. Wenn man es zulässt.

Der moderne Mensch ist ja ein Rollenwese­n, er setzt im Laufe eines Tages viele Gesichter auf. In immer neuen Zusammenhä­ngen, im Job, im Verein, im Freundeskr­eis muss er Erwartunge­n genügen. Das ist anstrengen­d. Es kann sogar krank machen, wenn aus ständiger Anpassung tiefe Entfremdun­g wird.

Das Individuum benötigt also den anderen Ort, an dem es sich von Erwartunge­n und Konvention­en befreien, mehr mit sich selbst in Einklang leben kann. Natürlich gibt es auch im Privaten Rol-

Das Individuum benötigt einen Ort, an dem es sich von Erwartunge­n und Konvention­en befreien kann

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