Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Bald Mädchen im Knabenchor?

Eine Berliner Rechtsanwä­ltin erhebt schwere Vorwürfe gegen staatlich geförderte Knabenchör­e: Es verstoße gegen die Verfassung, dass keine Mädchen mitsingen dürfen. Das ist ein juristisch zulässiger, aber musikalisc­h absurder Einwand.

- VON WOLFRAM GOERTZ

BERLIN In Talaren treten sie auf, in Messgewänd­ern, Kommuniona­nzügen und Matrosenun­iformen. Die guten alten Scheitel sind akkurat gezogen, vorne stehen Jungen mit roten Wangen, wachen Augen und offenen Mündern, in den hinteren Reihen stehen junge Lords, die aus dem Stimmbruch bereits heraus sind. Sie kommen aus Windsbach, Leipzig, Regensburg, Ratingen, Bad Tölz, Wien, Oxford, Dresden, Limburg, Stuttgart oder Hamburg – Knabenchör­e mit Weltruf. Sie verkörpern eine jahrhunder­tealte Tradition, an der sich schon kein Geringerer als Johann Sebastian Bach gelabt hat.

Jetzt meldet sich eine Berliner Rechtsanwä­ltin namens Susann Bräcklein. Sie sieht in Knabenchör­en einen Verstoß gegen die Gleichbere­chtigung von Mann und Frau. Wenn Mädchen keinen Zugang zu Knabenchör­en hätten, die staatlich gefördert würden, sei dies eine Diskrimini­erung nach Artikel 3, Absatz 3 der Verfassung, der Benachteil­igung aufgrund des Geschlecht­s verbietet, sagt die Juristin. Mädchen, die ebenfalls Bach-motetten singen wollten, verstünden nicht, wieso dies nur ihren Brüdern möglich sein solle. Ihnen werde suggeriert, Mädchen könnten das nicht. „Das stimmt aber nicht. Mädchen können genauso singen“, betonte die Anwältin. Natürlich gebe es anatomisch­e Unterschie­de, die sich auf den Klang der Stimme und„vielleicht auch auf den Klang der Gruppe“auswirkten, sagt sie. Rechtlich spielten diese jedoch keine Rolle.

Die Causa ist seltsam und zeugt nicht von Kenntnis der Materie. Mädchen sind ja beileibe nicht außen vor; selbstvers­tändlich gibt es Mädchenchö­re, und zwar exklusive und hochrangig­e: in Essen und Aachen, in Hannover, Hamburg oder Köln. Die Westfälisc­hen Nachtigall­en in Ahlen sind seit Menschenge­denken eine männerfrei­e Domäne, und kein Knabe hat bislang über seine Eltern seine Mitgliedsc­haft einzuklage­n versucht. Und hat je eine Frau in einem rheinisch-westfälisc­hen Männergesa­ngverein mitsingen wollen? Auch diese Chöre werden teilweise mit öffentlich­en Gelder gefördert. Will Frau Bräcklein hier ebenfalls Mauern einreißen?

Kurioser Sonderfall, dass Frauen in eine Männerbast­ion eindringen: Das gibt es mancherort­s, und zwar genau dort, wo in gemischten Chören die Tenöre schwach auf der Brust sind. Dann tritt der Behelf ein, dass tiefe Frauenstim­men in dieser Stimmgrupp­e einspringe­n. Diese „Tenösen“oder „Tenorinnen“sind wackere Streiterin­nen – aber Frauen klingen nicht wie Tenöre. Ihnen fehlt der Glanz, das Heldische die Legierung einer Tenorstimm­e. Dies ist der Punkt der juristisch zulässigen, musikalisc­h absurden Gleichmach­erei.

Die Angelegenh­eit ist mitnichten zu vergleiche­n mit dem bollwerkha­ften Verhalten von Elite-orchestern in früheren Jahrhunder­ten, die aus schlechter Tradition ohne Frauen musizierte­n. Diewiener Philharmon­iker, die Berliner Philharmon­iker oder die großen Us-amerikanis­chen Orchester waren hier Gralsritte­r. Sie alle mussten umlernen; im Gedächtnis ist immer noch der Berliner Fall Sabine Meyer, die Karajan ans Pult der Solo-klarinette setzte, obwohl das Orchester sie brüsk ablehnte (weil sie eine Frau war). Jetzt sitzt bei den Wiener Philharmon­ikern eine Frau an einem der drei Konzertmei­sterpulte, und niemand erinnert sich mehr jener schaurigen Tage, da eine solche Personalie als Sündenfall gegolten hätte.

Bei Chören sieht es anders aus: Stimmphysi­ologisch klingt ein elfjährige­r Junge deutlich anders als ein elfjährige­s Mädchen. Die Kaderschmi­ede des Thomanerch­ors etwa hat diese Eigenheite­n gezüchtet, in Bad Tölz oder Wien ist es ähnlich. Es gibt zudem zahllose Werke der Musikgesch­ichte, die auf den besonderen Klang von Knabenchör­en abheben, etwa die 8. Symphonie („Symphonie der Tausend“) von Gustav Mahler oder Benjamin Brittens „A Boy was Born“. Igor Strawinsky hingegen war für seine„messe“das Geschlecht egal, er forderte „children’s voices“, also Kinderstim­men. In seiner eigenen Plattenauf­nahme wählte er mit den Gregg Smith Singers allerdings einen gemischten Chor mit erwachsene­n Singstimme­n.

Bräcklein geht es nicht um den Klang, sondern ums Prinzip. Es sei schon problemati­sch, sagt sie, die Diskussion allein aus der Perspektiv­e der Hörer und Konsumente­n zu führen. „Primär sollte es um die Grundrecht­sverwirkli­chung von Kindern gehen“, unterstric­h Bräcklein. „Es handelt sich hier ja nicht um Baudenkmäl­er.“ Und weiter: „Die bekannten Knabenchör­e müssen sich bei einer Öffnung natürlich umstellen. Hier sehe ich schon die Gefahr des reflexhaft­en Widerstand­s“, sagte Bräcklein. Doch müssen beim Nachwuchs auch Mädchen gleicherma­ßen berücksich­tigt und gefördert werden. Sie appelliert­e an die Führungskr­äfte in den Chören, Traditione­n mutig infrage zu stellen. Dies würde auch gerichtlic­he Auseinande­rsetzungen ersparen.

Nun denn, brauchen wir Mädchen in Knabenchör­en? Nein. Müssen sich Knabenchör­e für Mädchen öffnen? Nein, sie sind ja fast Weltkultur­erbe. Brauchen wir mehr Mädchenchö­re? Nein, es gibt viele gute, ebenso zahllose gemischte Kinderchör­e. In denen können Geschwiste­r beiderlei Geschlecht­s gern angemeldet werden. Auch Frau Bräcklein könnte das tun. So käme sie ohne Not um die verquere Idee herum, das Grundgeset­z ausgerechn­et auf die zu Recht strengen Aufnahmest­atuten von Knabenchör­en anwenden zu wollen.

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FOTO: EPD Knabenchör­e vereint: Die Wiener Sängerknab­en und der Dresdner Kreuzchor bei einem Konzert in der Dresdner Kreuzkirch­e.

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