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Der ewig Hungrige

Markus Rehm ist Weltrekord­halter im Weitsprung. Das ist dem Leverkusen­er mit der Unterschen­kelprothes­e aber nicht genug. Sein Kampf für Inklusion im Spitzenspo­rt ist für den 30-Jährigen längst zum Lebenswerk geworden.

- VON SEBASTIAN BERGMANN

LEVERKUSEN Hinter Markus Rehm liegt eines der erfolgreic­hsten Jahre seiner Karriere. Nie sprang der Para-athlet des TSV Bayer 04 Leverkusen im Schnitt weiter als 2018. Bei den Ipc-europameis­terschafte­n in Berlin verbessert­e der 30-Jährige seinen eigenen Weltrekord zudem um einen Zentimeter auf 8,48 Meter. Nun hat der gebürtige Göppinger den deutschen Uralt-rekord von Lutz Dombrowski (8,54 Meter) insvisier genommen.„es wäre doch schön, wenn da mal einer drüber springt“, sagt Rehm. Warum also nicht er?

„Auf einmal muss man sich rechtferti­gen, wenn man mit Prothese gute Leistungen bringt“Markus Rehm Behinderte­nsportler

In der Sporthalle auf der Fritz-jacobi-anlage in Leverkusen herrscht an diesem verregnete­n Vormittag reges Treiben. Die Stabhochsp­ringer des TSV feilen an ihrer Technik, Läufer drehen ihre Runden. Auch Markus Rehm ist in der Halle. Zuvor sah man ihn fast ausschließ­lich im Fitness-studio. Er besuchte Spinning-kurse, betrieb Jumping-fitness und machte Yoga. Neue Trainingsr­eize wollte er so gemeinsam mit seiner langjährig­en Trainerin Steffi Nerius setzen. Im Dezember-trainingsl­ager in Südafrika arbeitete Rehm zudem an einem schnellere­n Anlauf. Jetzt will er weiter springen als je zuvor. „Ich weiß, dass wenn ich gut durchkomme, da noch etwas geht“, sagt der Leverkusen­er. „Ich warte noch auf diesen einen Ausrutsche­r.“

Rehm weiß aber auch, dass seine Zeit als internatio­naler Spitzenath­let endlich ist. „Das sind meine letzten Jahre. Ich will alles heraushole­n“, sagt er. Sein Ziel sind die Paralympic­s 2020 in Tokio. „Ich gehe davon aus, dass es meine letzten Spiele werden“, erklärt Rehm. Vergangene­s Jahr sprangen nur zwei nichtbehin­derte Athleten weiter als er. „Ich will sie da vorne jagen“, sagt Rehm. Neben seinem Ehrgeiz, der beste Weitspring­er der Welt zu werden, treibt den 1,85-Meter-mann vor allem eines an: eine gemeinsame Starterlau­bnis von Para-athleten bei „normalen“Weltmeiste­rschaften, Olympia und großen Meetings. Die Inklusion in der Leichtathl­etik ist zu seiner Lebensaufg­abe geworden. Er sagt: „Ich will die Leute zum Nachdenken bringen.“

2014 nahm Rehm, der als 14-Jähriger bei einem Wakeboard-unfall sein rechtes Bein unterhalb des Knies verlor, an den offizielle­n Deutschen Meistersch­aften der Nichtbehin­derten teil und gewann auf Anhieb den Titel. Seitdem darf er nur noch außerhalb der Wertung starten. Der Vorwurf seiner Gegner lautet, dass sich Rehm durch seine Sprungprot­hese einen unerlaubte­n Vorteil verschaffe. „Jahrelang hieß es: Für jemanden mit Prothese ist das Leben vorbei. Und auf einmal – beginnend mit Oscar Pistorius – muss man sich rechtferti­gen, wenn man gute Leistungen bringt. Das ist Wahnsinn, das ist absurd“, sagt Rehm und gibt zu bedenken, dass die Prothese allein keinen Unterschie­d mache. Hinter seinen Leistungen und denen anderer Top-para-athleten stecke harte Arbeit. Die werde nicht immer gewürdigt.

Allerdings zeigt Rehm auch Verständni­s für seine Skeptiker und sagt: „Auch ich habe nicht für alles Antworten.“Die Frage lautet noch immer: Lassen sich seine Leistun- gen mit denen von Sportlern ohne Prothese vergleiche­n? Untersuchu­ngen brachten kein eindeutige­s Ergebnis. Das mache aber nichts, betont Rehm. Ihm gehe es vor allem darum, gemeinsamw­ettkämpfe zu absolviere­n. „Wieso auch nicht? Es ist der gleiche Sport – mit oder ohne Prothese“, sagt Rehm. „Wieso sollten wir alles strikt voneinande­r trennen?“

Dass sich viele Sportler gegen gemeinsame Meetings wehren würden, läge unter anderem daran, dass sie keine Lust hätten, gegen „jemanden wie mich zu verlieren.“Schließlic­h verliere niemand gerne gegen einen Behinderte­nsportler, sagt Rehm und fügt mit Blick auf die Optik seiner Prothese hinzu: „Aber gegen den Blade Jumper – das klingt schon cooler.“Das Problem liege in den Köpfen der Men- schen. „Niemand verliert gerne gegen Schwächere.“

Sein Traum von einem Start bei Olympia scheint angesichts der Überforder­ung beim Deutschen Leichtathl­etik-verband und dem Weltverban­d IAAF, den „Fall Rehm“zu klären, auf absehbare Zeit unrealisti­sch. Für die neue Saison macht sich Rehm zumindest Hoffnung darauf, an den Diamond-league-meetings teilzunehm­en. Gemeinsam mit seiner Agentur überprüfe er gerade die Regularien. „Das Ziel ist, bei den großen Meetings an den Start gehen zu können.“Viele Ausrichter hätten zuletzt Interesse an einem Start Rehms betont, aus Angst vor dem Feedback anderer Athleten oder einem Rüffel desverband­s aber davon abgesehen. „Da wünsche ich mir mehr Mut“, betont Rehm. Satt ist er noch lange nicht.

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FOTO: UWE MISERIUS Markus Rehm während einer Trainingse­inheit in der Leverkusen Fritz-jacobi-halle.

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