Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
Der ewig Hungrige
Markus Rehm ist Weltrekordhalter im Weitsprung. Das ist dem Leverkusener mit der Unterschenkelprothese aber nicht genug. Sein Kampf für Inklusion im Spitzensport ist für den 30-Jährigen längst zum Lebenswerk geworden.
LEVERKUSEN Hinter Markus Rehm liegt eines der erfolgreichsten Jahre seiner Karriere. Nie sprang der Para-athlet des TSV Bayer 04 Leverkusen im Schnitt weiter als 2018. Bei den Ipc-europameisterschaften in Berlin verbesserte der 30-Jährige seinen eigenen Weltrekord zudem um einen Zentimeter auf 8,48 Meter. Nun hat der gebürtige Göppinger den deutschen Uralt-rekord von Lutz Dombrowski (8,54 Meter) insvisier genommen.„es wäre doch schön, wenn da mal einer drüber springt“, sagt Rehm. Warum also nicht er?
„Auf einmal muss man sich rechtfertigen, wenn man mit Prothese gute Leistungen bringt“Markus Rehm Behindertensportler
In der Sporthalle auf der Fritz-jacobi-anlage in Leverkusen herrscht an diesem verregneten Vormittag reges Treiben. Die Stabhochspringer des TSV feilen an ihrer Technik, Läufer drehen ihre Runden. Auch Markus Rehm ist in der Halle. Zuvor sah man ihn fast ausschließlich im Fitness-studio. Er besuchte Spinning-kurse, betrieb Jumping-fitness und machte Yoga. Neue Trainingsreize wollte er so gemeinsam mit seiner langjährigen Trainerin Steffi Nerius setzen. Im Dezember-trainingslager in Südafrika arbeitete Rehm zudem an einem schnelleren Anlauf. Jetzt will er weiter springen als je zuvor. „Ich weiß, dass wenn ich gut durchkomme, da noch etwas geht“, sagt der Leverkusener. „Ich warte noch auf diesen einen Ausrutscher.“
Rehm weiß aber auch, dass seine Zeit als internationaler Spitzenathlet endlich ist. „Das sind meine letzten Jahre. Ich will alles herausholen“, sagt er. Sein Ziel sind die Paralympics 2020 in Tokio. „Ich gehe davon aus, dass es meine letzten Spiele werden“, erklärt Rehm. Vergangenes Jahr sprangen nur zwei nichtbehinderte Athleten weiter als er. „Ich will sie da vorne jagen“, sagt Rehm. Neben seinem Ehrgeiz, der beste Weitspringer der Welt zu werden, treibt den 1,85-Meter-mann vor allem eines an: eine gemeinsame Starterlaubnis von Para-athleten bei „normalen“Weltmeisterschaften, Olympia und großen Meetings. Die Inklusion in der Leichtathletik ist zu seiner Lebensaufgabe geworden. Er sagt: „Ich will die Leute zum Nachdenken bringen.“
2014 nahm Rehm, der als 14-Jähriger bei einem Wakeboard-unfall sein rechtes Bein unterhalb des Knies verlor, an den offiziellen Deutschen Meisterschaften der Nichtbehinderten teil und gewann auf Anhieb den Titel. Seitdem darf er nur noch außerhalb der Wertung starten. Der Vorwurf seiner Gegner lautet, dass sich Rehm durch seine Sprungprothese einen unerlaubten Vorteil verschaffe. „Jahrelang hieß es: Für jemanden mit Prothese ist das Leben vorbei. Und auf einmal – beginnend mit Oscar Pistorius – muss man sich rechtfertigen, wenn man gute Leistungen bringt. Das ist Wahnsinn, das ist absurd“, sagt Rehm und gibt zu bedenken, dass die Prothese allein keinen Unterschied mache. Hinter seinen Leistungen und denen anderer Top-para-athleten stecke harte Arbeit. Die werde nicht immer gewürdigt.
Allerdings zeigt Rehm auch Verständnis für seine Skeptiker und sagt: „Auch ich habe nicht für alles Antworten.“Die Frage lautet noch immer: Lassen sich seine Leistun- gen mit denen von Sportlern ohne Prothese vergleichen? Untersuchungen brachten kein eindeutiges Ergebnis. Das mache aber nichts, betont Rehm. Ihm gehe es vor allem darum, gemeinsamwettkämpfe zu absolvieren. „Wieso auch nicht? Es ist der gleiche Sport – mit oder ohne Prothese“, sagt Rehm. „Wieso sollten wir alles strikt voneinander trennen?“
Dass sich viele Sportler gegen gemeinsame Meetings wehren würden, läge unter anderem daran, dass sie keine Lust hätten, gegen „jemanden wie mich zu verlieren.“Schließlich verliere niemand gerne gegen einen Behindertensportler, sagt Rehm und fügt mit Blick auf die Optik seiner Prothese hinzu: „Aber gegen den Blade Jumper – das klingt schon cooler.“Das Problem liege in den Köpfen der Men- schen. „Niemand verliert gerne gegen Schwächere.“
Sein Traum von einem Start bei Olympia scheint angesichts der Überforderung beim Deutschen Leichtathletik-verband und dem Weltverband IAAF, den „Fall Rehm“zu klären, auf absehbare Zeit unrealistisch. Für die neue Saison macht sich Rehm zumindest Hoffnung darauf, an den Diamond-league-meetings teilzunehmen. Gemeinsam mit seiner Agentur überprüfe er gerade die Regularien. „Das Ziel ist, bei den großen Meetings an den Start gehen zu können.“Viele Ausrichter hätten zuletzt Interesse an einem Start Rehms betont, aus Angst vor dem Feedback anderer Athleten oder einem Rüffel desverbands aber davon abgesehen. „Da wünsche ich mir mehr Mut“, betont Rehm. Satt ist er noch lange nicht.