Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
Cambridge 5 – Zeit der Verräter
Nein, Zahnpasta. Er musste am nächsten Tag den Acht-uhr-flug nachwashington nehmen, und ihm war eingefallen, dass er noch Zahnpasta brauchte. Der arabische Student war gekränkt, dass Hunt ihm – während sie an der Kasse anstanden – mitteilte, er halte nichts von seinem Schlusskapitel. Nachdem die Dissertation von zwei Gutachtern mit „genügend“beurteilt worden war, nahm sich der Student einen Anwalt. An der Note sei Professor Hunts mangelhafte Betreuung schuld gewesen. Die Zahnpastageschichte wurde als Beleg angeführt.“
„Bekommt man Zahnpasta nicht bei Langstreckenflügen geschenkt?“, fragte Denys.
„Anscheinend nicht die mit seinem Lieblingsgeschmack Orange. Das Problem für unsere Fakultät lag darin, dass der Student mit der saudischen Königsfamilie verwandt war. Wir konnten am Ende einen Vergleich ausarbeiten, aber die Familie lässt uns seitdem keine Spenden mehr zukommen.“
Es passte ins Bild. Hunt hatte auch bei Collegesitzungen immer wieder gegen die Vorzugsbehandlung von privilegierten Studenten angekämpft. Denys war sich nicht sicher, wo Hunt mittlerweile politisch stand. War er immer noch der Linke aus seiner Jugend, oder wollte er einfach nur überall Ärger verursachen?
„Falls er tatsächlich etwas mit diesem Mord zu tun hat, was ich sehr bezweifle, dann ist es eine Geschichte unter ehemaligen Studienkollegen. Er hatte keine gute Beziehung zu Stef.“Jetzt schien Anne überrascht. „Das wusste ich nicht.“
„Ja, leider. Stef und ich waren Studienfreunde, und er hat oft über Hunt gesprochen.“Denys zögerte einen Moment. „Ich habe versucht, Hunt zu erreichen, aber sein Handy ist ausgestellt. Ich weiß nicht, was er sich dabei denkt. Er kann nicht einfach untertauchen. Er muss mit uns und der Polizei reden.“
Anne nickte. „Es wäre klug von ihm.“
Der Master warf ihr einen wissenden Blick zu. Sie waren Veteranen des akademischen Geschäfts. Sie würden ihr Bestes für den Kollegen tun, aber sie würden es auf keinen Fall zulassen, dass er sie auf seiner Fahrt in den Abgrund mitriss. 21. Januar 2015 Professor Hunts Haus Jubilee Avenue Newnham
Hunt lebte in Newnham, dem Cambridger Akademikerviertel. Obwohl die schmalen Häuser hier dicht aneinanderklebten und nur handtuchschmale Gärten aufwiesen, beliefen sich die Hauspreise im Durchschnitt auf siebenhunderttausend Pfund. Die meisten Newnhamer nahmen große Kredite auf und verschuldeten sich auf Jahre hinaus, um in dieser Gegend leben zu können.
Warum Newnham als etwas Besonderes galt, hätte ein Außenstehender nur schwer nachvollziehen können, aber hier wohnte nun einmal die intellektuelle Elite von Cambridge. Sie stellten ihre Fahrräder mit Weidenkorb vor die Tür, stopften die kleinen Räume mit Büchern voll und vernachlässigten demonstrativ den Garten. In Newnham zu wohnen war eine teure Art zu sagen, dass einen Geld nicht interessierte.
Bewohner von Newnham gingen jeden Morgen zum kleinen Co- op an der Ecke, um dort Milch und den Guardian zu kaufen. Auch das war ein demonstratives Understatement. Man zeigte, dass man nicht in den teuren Supermärkten von Cambridge einkaufte, wo Softwaremillionäre sich ihre Saucen mixen ließen, sondern im dürftig sortierten Co-op von Newnham. Der wirkliche Grund für den Einkauf war, dass dieser Laden als Kontaktbörse besonderer Art diente. Hier konnte man dem ehemaligen Bischof von Ely beim Einkaufen zusehen oder mit dem Biografen von Engels einen Plausch halten. Früher hatte man auch noch Stephen Hawking im Rollstuhl antreffen können, aber seit seiner zweiten Scheidung kam er nicht mehr so häufig vorbei.
Es gab in Newnham eine elegante Straße, die von allen anderen Newnhamern demonstrativ gemieden wurde: Millington Road, die Millionärszeile. Die Häuser dort waren groß und geräumig und überstiegen die Zwei-millionen-grenze. Noch vor einer Generation war diese Straße voller Wissenschaftler gewesen, jetzt konnten sich nur noch Banker diese Häuser leisten. Sie wohnten neben so illustren Leuten wie dem ehemaligen Chef des MI6, Sir Richard Dearlove, und dem Sohn des Herzogs von Kent.
Theoretisch hätte sich Hunt in der Millington Road ein Grundstück kaufen können, nachdem zwei seiner Bücher zu Bestsellern geworden waren. Es hätte ihn durchaus amüsiert, mit einem Umzug den Neid seiner Kollegen zu verstärken, aber so viel Aufwand war ihm die Sache dann doch nicht wert gewesen. Er blieb in seinem kleinen Haus in der Jubilee Avenue, einer besonders engen Straße von Newnham.
Die Journalisten hatten nicht lan- ge gebraucht, um seine Anschrift ausfindig zu machen. Jeder kannte ihn in Newnham, und die Befragung der Nachbarn war bereits in vollem Gange. Hunt besaß keine Gardinen, hinter denen er sich verstecken konnte. Sein Logenplatz war daher das Toilettenfenster im ersten Stock geworden. Von hier aus konnte er beobachten, wie mehrere Presseleute an der Nebentür klopften. Ausgerechnet bei seinem Nachbarn Oliver. Da würden sie wenig Glück haben. Oliver war ein berühmter Botaniker mit Aspergersyndrom. Er würde entweder nicht die Tür aufmachen oder sich nicht an Hunts Namen erinnern können. Sie kannten sich mittlerweile seit zwanzig Jahren, und Hunt hatte es immer als angenehm empfunden, neben einem Mann zu leben, der sich ausschließlich für Pflanzliches interessierte.
Seine Nachbarn zur Rechten waren etwas schwatzhafter, aber auch sie würden als überzeugte Guardian-leser keinwort mit der Schundpresse reden. Und was hätten sie auch erzählen können? Dass er häufig Damenbesuch hatte und nachts laut Rockmusik hörte? Nebbich. Welcher Mann seiner Generation tat das nicht?
Jetzt klingelten sie wieder bei ihm. Für wie blöd hielten die ihn eigentlich? Er hatte gleich nach seiner Rückkehr alle Stecker herausgezogen, Telefon, WLAN et cetera – aus seinem Haus kam kein Ton mehr. Natürlich wäre es klüger gewesen, sofort nach London zu verschwinden, aber er hatte nicht mit der Schnelligkeit der Presse gerechnet.