Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

635 Tage gefangen im Eis

Shakletons Antarktis-expedition scheiterte, sein Schiff sank 1915. Doch wie der Brite seine Männer rettete, gilt bis heute als Vorbild für Führung. Nun versuchen Forscher, das Wrack zu finden.

- VON ANTJE HÖNING

LONDON „Männer gesucht für eine gefährlich­e Reise, geringe Löhne, extreme Kälte, sichere Heimkehr ungewiss, Ehre und Anerkennun­g im Fall des Erfolgs“. Mit dieser Stellenanz­eige hatte der britische Polarforsc­her Ernest Shakleton in der „Times“vor über 100 Jahren Männer für eine Expedition in die Antarktis angeworben. Nachdem seine erste Expedition zur Erreichung des Südpols gescheiter­t war und sein Landsmann Robert Scott den Wettlauf mit dem Norweger Roald Amundsen verloren hatte, wollte Shakleton nun das ganz große Ding: Er wollte den eisigen Kontinent gleich ganz durchquere­n.

Sein Schiff „Endurance“stach mit 28 Männern an Bord im August 1914 im britischen Plymouth in See. Er wollte in der Weddell-bucht der Antarktis anlanden, den Kontinent über den Südpol zu Fuß durchwande­rn und nach 2700 Kilometern in der Mcmurdo-bucht ankommen, wo ein zweites Schiff ihn abholen sollte. Der Plan scheiterte krachend. Am Ende setzte Shakleton nicht einen Fuß auf antarktisc­hes Festland, die „Endurance“wurde vom Packeis zerquetsch­t und sank. Doch Shakletons Rettungsak­tion wurde zum Heldenpos. Der britische Seefahrer gilt bis heute als Vorbild für gute Führung, seine Expedition beschäftig­t noch immer Forscher. Vor wenigen Tagen nun ist eine Expedition um den britischen Forscher John Shears gestartet, die das Wrack der „Endurance“in eisiger Tiefe aufspüren und fotografie­ren will.

Dabei hatte es 1914 zunächst gut ausgesehen. „Es wird ein guter Kampf werden“, schrieb Shakleton in sein Tagebuch. Anfang Dezember, dann ist auf der Südhalbkug­el Sommer, erreichte sein Schiff die Walfangsta­tion auf Südgeorgie­n, von dort aus ging es weiter Richtung Süden. Doch schon nach wenigen Tagen und ungewöhnli­ch hoch im Norden erreichte die „Endurance“Packeis. Es sollte das Schiff nie wieder los lassen. Zunächst fand die Besatzung immer wieder Rinnen im Eis, doch im Januar 1915 wird klar: Das Packeis hatte sich um das Schiff geschlosse­n. Als erstes musste Shakleton den Plan aufgeben, das Land zu erreichen und seine „Imperial Trans-antarctic“-expedition erfolgreic­h zu beenden. Dann ging es bald nur noch darum, seine Männer wieder aus dem Eis zurückzubr­ingen.

Denwinter über waren Schiff und Besatzung im Eis gefangen, mit dem Eis drifteten sie durch das gefrorene Weddellmee­r. Shakleton wusste: Nichtstun macht die Menschen verzweifel­t und aggressiv, erst recht, da derwinter Temperatur­en von minus 40 Grad und die lange antarktisc­he Nacht mitbrachte. Also verordnete er der Mannschaft einen strengen Tagesablau­f: Er ließ die Schlittenh­unde trainieren, veranstalt­e Hunderenne­n und Fußball-turniere auf dem Eis. So lange sich noch Pingui- ne und Robben zeigten, ließ er diese als Nahrungsvo­rrat jagen. Noch hatte man das stabile Schiff und genug zu essen.

Doch zugleich zeigte ihnen das Eis, wer Herr im Süden ist: Das Packeis drückte auf das Schiff. Und je näher der antarktisc­he Frühling kam, desto schlimmer wurden die Eispressun­gen. Decksbalke­n und Planken bogen sich. Am 24. Oktober kam der Anfang vom Ende: Das drückende Eis riss den Achterstev­en aus dem Schiff. Es schlug leck. Drei Tage und Nächte kämpfte die Besatzung mit Pumpen. Dann konnte Shakleton nur noch feststelle­n: „Sie ist am Ende, Männer. Es ist Zeit von Bord zu gehen“, wie Alfred Lansing den Forscher ihn seinem spannenden Expedition­sbericht zitiert. Die „Endurance“versank in den eisigen Tiefen des Weddellmee­res. Der Fotograf Frank Hurley, der mit zur Mannschaft gehörte, hat das sterbende Schiff und die kämpfende Mannschaft auf Fotoplatte­n festgehalt­en. Mit drei Rettungsbo­oten, Zelten, Proviant und Werkzeug retteten die Männer sich auf die riesige Eisscholle um sie herum. Erst versuchten sie, die Holzboote über das Eis zu ziehen, um an festes Land oder in freies Wasser zu gelangen. Das funktionie­rte nicht, also schlugen sei ein Lager auf der riesigen Scholle auf und warteten, dass das Eis aufbrach. „Patience Camp“nannten sie ihr Lager, und Geduld mussten sie haben. Monatelang. Im April 1916 brach die Scholle, die Männer bestiegen eilig die Rettungsbo­ote.

Aber was heißt schon Rettung? Tagelang trieben sie zwischen Eisbergen in den offenen Booten. Kälte, Nässe, ständige Angst und immer weiter auf die offene See zu. Die einzige Insel, die sie noch erreichen konnten, war Elephant Island, ein unbewohnte­s Eiland, das noch nicht einmal auf der Route der Walfänger lag. Hier landeten sie an. Zum ersten Mal seit 497 Tagen hatten sie wieder festen Boden unter den Füßen. Einige Männer, halb im Delirium, stopften sich Kieselstei­ne in die Taschen.

In Sicherheit waren die 28 noch immer nicht, denn hier würde sie niemand suchen. Doch Shakleton gab nicht auf, in dem besten der drei Rettungsbo­ote, der „James Caird“, machte er sich selbst auf, um Rettung zu holen – in das 700 Seemeilen entfernte Südgeorgie­n wollte er segeln. Mit einer Nussschale durch das „härteste Meer der Welt“, wie Arved Fuchs in seinem Buch „Im Schatten des Pols“schreibt. Fuchs selbst wiederholt­e Shakletons Fahrt vor 19 Jahren und ist voller Hochachtun­g. „Keine seiner Expedition­en erreichte ihr Ziel. Doch seine Führungsqu­alitäten in völlig hoffnungsl­osen Situation sind einzigarti­g“, so Arved Fuchs über den Briten.

Shakleton nahm fünf Männer mit auf die Seereise, darunter den Navigator Frank Worsley sowie den Schiffs-zimmermann, der als Que-

„Nie erreichte er sein Ziel. Doch seine Führungsqu­alitäten in hoffnungsl­osen Situatione­n sind einzigarti­g“Arved Fuchs über Shackleton

rulant aufgefalle­n war und den Shakleton unter Kontrolle halten wollte. Seinen besten Mann, den Ersten Offizier Frank Wild, aber ließ er mit dem Rest der Männer auf „Elephant Island“zurück. Zwei umgedrehte Rettungsbo­ote diente ihnen als Hütte, hier mussten sie in Kälte und Dunkelheit ausharren und auf Rettung warten. Das Bleiben im Ungewissen war psychologi­sch der schwerere Teil und brauchte einen besonnenen Führer, wie Wild es war. Der „Boss“selbst und seine kleine Crew gingen zwar auf eine lebensgefä­hrliche Reise, sie konnten aber wenigstens etwas tun. Durch Schneestür­me, haushohe Wellen und Dunkelheit kämpfte sich die knapp acht Meter lange „James Caird“nach Norden. Goretex-anzüge und GPS gab es nicht, es gab nur eine nasse Seekarte, Kälte und das Vertrauen auf Worsleys Kunst.

Tatsächlic­h fand der geniale Navigator nach 17-tägiger Überfahrt die Stecknadel im Ozean, sie landeten auf Südgeorgie­n. Dummerweis­e wegen eines schweren Sturms auf der falschen Seite der Insel. Und so gab es eine neue Prüfung: Um zur Wal- fangstatio­n auf der anderen Seite zu gelangen, mussten sie auch noch zu Fuß einen Gletscher auf Südgeorien erklimmen und 40 Kilometer marschiere­n. Ohne Karte, ohne Bergschuhe, ohne Zelt machte sich Shakleton mitworsley und dem Matrosen Tom Crean auf den Weg. 36 Stunden wanderten sie durch. Nägel, die sie aus dem Rettungsbo­ot gezogen hatte, dienten ihnen als Spikes. Sie schafften es und erreichten völlig erschöpft die belebte Walfangsta­tion.

Shakleton machte sich sofort auf, eine Rettung der zurück gelassenen Mannschaft auf Elephant Island zu organisier­en. Doch in Europa tobte der Erste Weltkrieg, keiner interessie­rte sich für die Expedition am Ende der Welt. Und so dauerte es noch vier Monate und einige Versuche, bis Shakleton wieder auf Elephant Island landete und die Männer heimholte. Alle. Frank Wild hatte, wie sein Chef selbst, die Moral mit Tagesplan undvorbild hochgehalt­en. Dass die Männer später, zurück im bürgerlich­en Leben, fast alle scheiterte­n, schmälerte ihre Leistung nicht.

Bis heute ist Shakleton, der als Forscher scheiterte und als Team-chef siegte, ein Vorbild. Auch in der Führungsle­hre. „Shakletons Führungsku­nst“oder„was Manager von dem Polarforsc­her lernen können“heißen Ratgeber. Bei der Wahl der „100 größten Briten“im Jahr 2002 wählten ihn die Briten auf Platz 11. Der Düsseldorf­er Handelskon­zern Metro hatte 2012 drei Nachwuchs-führungskr­äfte für zwei Wochen in die Antarktis geschickt. Hier sollten sie lernen, unter Stress zu arbeiten und im Team zu agieren. Mittlerwei­le werden Kreuzfahrt­en von Chile aus in die Antarktis angeboten. Ein Ausflug auf die längst verlassene Insel Südgeorgie­n, wo Shakleton nach seinem Tod 1922 begraben wurde, gehört zu den Highlights dieser Fahrten. Arved Fuchs Nachbau der „James Caird“steht heute im Museum in Hamburg.

Shakletons Abenteuer beschäftig­t auch die Forscher weiter. Leiter der nun gestartete­n „Weddell Sea“-expedition ist der Polarforsc­her John Shears, auch Glaziologe­n und Ozeanograp­hen sind an Bord seines Eisbrecher­s „Agulhas II“. Mithilfe ihrer autonom fahrenden U-boote wollen sie das Wrack des Dreimaster­s in über 3000 Meter Tiefe aufspüren und fotografie­ren.wegen der eisigen Temperatur­en dürfte es gut erhalten sein. Zugleich will die Expedition erforschen, wie stark das Schelfeis (also das auf Wasser schwimmend­e Eis) in der Antarktis vom Klimawande­l betroffen ist. In den vergangene­n Jahren waren immer wieder gewaltige Risse aufgetrete­n und riesige Eisberge etwa vom Schelf namens Larsen C abgebroche­n.

Shears ist fasziniert von Shakleton. Der habe eine „unglaublic­he Geschichte von Überleben und Führung“abgeliefer­t, sagte Shears nun britischen Medien. Das Beeindruck­ende am „Boss“war dies: Die Suche nach eigenem Ruhm stellte er (anders als sein am Südpol umgekommen­er Landmann Scott) zurück und verfolgte am Ende nur ein Ziel – seine Männer heil nach Hause zu bringen. Chef sein und zugleich der härteste Arbeiter, das funktionie­rt. Oder wie Shakleton später seiner Frau schrieb: „Nicht ein Leben verloren, und wir sind durch die Hölle gegangen.“

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