Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
Bibi und die Hexenjagd
Benjamin Netanjahu droht ein Verfahren wegen Korruption – als erstem amtierenden Ministerpräsidenten in der Geschichte Israels. Die Opposition fordert seinen Rücktritt.
JERUSALEM Der israelische Wahlkampf wird von Tag zu Tag spannender. Erschien ein weiterer Wahlsieg für Benjamin Netanjahu anfangs als nahezu abgemacht, sieht sich der Regierungschef aktuell im freien Fall. Nicht genug damit, dass sich seine Gegner der Mitteparteien, Benny Gantz und Jair Lapid, auf ein Zusammengehen einigten, und Blau-weiß, so der Name ihrer Liste, Umfragen zufolge deutlich vor dem Likud liegt, Netanjahus Partei. Am Donnerstag sprach sich nun auch noch Oberstaatsanwalt Avichai Mandelblit für eine Anklage gegen ihn aus. Genau das hatte der Regierungschef mit dem Vorziehen der Neuwahl verhindern wollen.
Mandelblit ist einer Meinung mit der Polizei, die Anklage in drei Fällen empfahl. Es geht um Bestechung, Betrug und Verletzung des öffentlichen Vertrauens. Netanjahu steht imverdacht, unsaubere Absprachen für eine positivere Berichterstattung über sich selbst und seine Familie getroffen zu haben. Zudem soll er teure Geschenke angenommen haben. Eine endgültige Entscheidung will Mandelblit von einer Anhörung Netanjahus abhängig machen, die erst nach der am 9. April geplanten Wahl stattfinden dürfte. Netanjahu sagte, er strebe dabei eine Wiederwahl an. Er wolle „noch lange Jahre“Israels Ministerpräsident bleiben. Der Politiker sprach von einer „Hexenjagd“gegen sich und seine Familie.
Dennoch ist die Verkündung des Oberstaatsanwalts Wasser auf die Mühlen von Blau-weiß. Die bevor- stehende Anklage wird Netanjahu Wähler kosten, aber noch entscheidender ist, dass er, sobald ein Verfahren gegen ihn sicher ist, kaum die nötigen Partner für eine Regierungskoalition rekrutieren können wird. Wirtschaftsminister Mosche Kachlon kündigte schon vor Monaten an, dass entweder er oder Netanjahu vom Amt zurücktreten würden, sollte es zu einer Anklage kommen.
Ex-generalstabschef Gantz, der als Spitzenkandidat ins Rennen geht, und sein Partner Lapid geben sich patriotisch. Nach zähem Ringen einigten sich die beiden auf ein Zusammengehen, um ihre Chance, Netanjahu im Regierungsamt abzulösen, zu vergrößern. Lapid soll per Rotation den Posten der Ministerpräsidenten nach zwei Jah- ren übernehmen, vorausgesetzt, die Rechnung von Blau-weiß geht auf. Vorläufig sieht es gut aus. Zwischen 35 bis 36 Mandate gaben Umfragen dem Mittebündnis vor dem Likud mit nur noch 26 bis 30. Gantz punktet beimvolk als ehemaliger Armeechef, der hart gegen Israels Feinde vorgehen will. Der Sohn einer Holocaust-überlebenden will sich weder links noch rechts zuordnen lassen. „Links“gilt im israelischen Sprachgebrauch zunehmend als schändlich. „Eher rechts von der Mitte“, so sortiert sich Lapid in die israelische Parteienlandschaft ein. Völlig offen bleibt, ob und welche Kompromisse die Liste den Palästinensern gegenüber machen würde.
Die starke Gegenfront und seine schwindende Popularität veran- lassten Netanjahu dazu, die Reste der jüngst gespaltenen Siedlerpartei „Das jüdische Haus“zur Kooperation mit der radikalen Partei Otzma Jehudit zu motivieren, der Nachfolgepartei der 1994 verbotenen Kach-partei. Unter ihrem Chef Meir Kahane predigte die Kach in den 80er Jahren die Vertreibung der Araber aus Israel. „Wäre ich Verteidigungsminister würde ich die (palästinensischen) Gebiete absperren, kein Fernsehen, kein Radio“, rief Kahane einst seinen Anhängern zu. Ein Punkt im Programm der Otzma Jehudit spricht vom „totalen Krieg“gegen die Feinde Israels, ein Krieg „ohne Verhandlungen und ohne Kompromisse“. Netanjahu würde das rechtsradikale Bündnis in eine Koalition einladen.