Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
Das andere Brasilien feiert seine Märtyrerin
Marielle Franco war eine kaum bekannte Politikerin. Ihre Ermordung machte sie zur Ikone des Widerstands gegen Präsident Bolsonaro.
RIO DE JANEIRO An dem Tag, an dem die Legende von Marielle Franco geboren wird, liegt sie blutüberströmt in ihrem Auto. Direkt neben ihrem erschossenen Fahrer. Das Bild des von Kugeln durchsiebten Autos stand in allen Zeitungen. Es ließ erahnen, was für ein Drama sich da am 14. März 2018 in Rio de Janeiro abgespielt haben musste. Tausende Menschen kamen zur Beerdigung, säumten den Leichenzug. An diesem Tag vor gut einem Jahr starb in Brasilien mehr als nur die Stadträtin Marielle Franco. Es war ein Mordanschlag auf die brasilianische Demokratie, auf die Rechte der Schwulen und Lesben, der afrostämmigen Brasilianer, der Favela-bevölkerung. Aber an diesem Tag wurde Marielle Franco auch zum Mythos.
Nun werden sie in Rio de Janeiros weltberühmtem „Sambódromo“Marielles Namen ehren. Jenem schnurgeraden Bau, dessen steile Tribünen mit Zehntausenden Zuschauern besetzt sind und auf dessen schmalen Asphaltstreifen das ganze Land in den Karnevalstagen gebannt schauen wird, wenn die Sambaschulen um Punkte und Meisterschaften kämpfen. Sie werden dort eine unsterbliche Heldin und eine Märtyrerin aus ihr machen, die wie eine Mahnung über der Präsidentschaft des rechtspopulistischen Präsidenten Jair Bolsonaro schweben wird.
Die „Estação Primeira de Mangueira“, eine der erfolgreichsten und größten Sambaschulen Rios, hat sogar ihren Karnevalsauftritt Franco gewidmet. Das ist ein Ritterschlag. Als amtierender Vizemeister wird die „Mangueira“als zweitletzte Schule ihren Auftritt haben, dann, wenn die Stimmung kocht, wenn im ganzen Land auch im kleinsten Dorf die Menschen auf die Bildschirme starren. Dann wird Mônica Benício, Francos Lebensgefährtin, vor jenem letzten Block tanzen, der Persönlichkeiten aus den Favelas ehrt, die besonders für ihren sozialen Einsatz bekannt wurden. Auch die eigens dafür komponierte Musik ist ein Denkmal: „Brasilien, es ist der Moment gekommen, die Marias, Mahins, Marielles, Males zu hören“, heißt es in dem Refrain. Es sind die Namen politisch engagierter Frauen mit afrikanischen Wurzeln, die zu ihren Lebzeiten für die Rechte der Unterdrückten und Benachteiligten gekämpft haben.
Leandro Vieira, als „Carnavalesco“für das Gesamtkunstwerk des Umzugs verantwortlich, erklärt, warum sich die„mangueira“für die- ses Motto entschieden hat: „Marielles Biografie dient als Vorbild. Ihr Tod bringt dies nicht zum Schweigen. Wenn der Tod die Wichtigkeit ihres Kampfes schmälern würde, gäbe es unseren Karnevalsumzug 2019 nicht.“
Eine, die eng mit Marielle befreundet war und als deren politische Erbin gilt, ist Taliria Petrone (33), wie Franco ebenfalls bei der sozialistischen Partei PSOL. „Marielle war eine Frau in einem Land mit den fünfmeisten Frauenmorden in der Welt. Eine Dunkelhäutige in einem Land, in dem Afrobasilianer als Personen angesehen werden, die man töten kann“, sagt Petrone. „Marielle war eine Frau, die eine andere liebte, in einem Land, das lesbische Frauen vergewaltigt, das Rekordzahlen von Morden an Schwulen und Lesben verzeichnet. Eine sozialistische Frau in einem Land mit sozialem Ungleichgewicht. Verfechterin von Menschenrechten in einem Land, das mit Morden an Menschenrechtsverfechtern Rekorde schreibt. Und eine Abgeordnete in einem Land, in dem der Anteil von Frauen, vor allem dunkelhäu- tigen Frauen, in der Politik äußerst gering ist.“
Bei den jüngsten Wahlen gelang Petrone – stellvertretend für Franco – der Einzug in die Abgeordnetenkammer. Nicht selten, wenn Petrone Interviews gibt, spricht sie nicht in der Vergangenheitsform, sondern in der Gegenwart. Als ob Marielle noch leben würde. „Marielle presente“(Marielle anwesend) ist auch einer der Parolen ihrer Anhänger, die damit Häuserwände und Mauern in der ganzen Stadt besprühen. Auch im „Complexo da Mare“, einem Verbund von 16 Favelas im Norden Rios, ehrt der Straßenkarneval seine Mitgründerin. Vor gut 15 Jahren hatte Franco die örtliche Karnevalsgruppe ins Leben gerufen; jetzt laufen sie durch die Armenviertel und machen aus ihr eine Heldin.
Der faszinierende posthume Aufstieg Francos von einer nur lokal bekannten Politikerin zu einer landesweit verehrten politischen Märtyrerin hängt auch mit dem Wahlsieg Bolsonaros zusammen. Der Rechtspopulist aus Rio de Janeiro steht für den politischen Gegenentwurf zu Francos Überzeugungen. Vor allem für eine Politik der harten Hand gegenüber den oft aus afrobrasilianischen Gangmitgliedern bestehenden Drogenbanden in Rios Favelas. Nicht wenige Brasilianer befürworten diese Politik. Sie wollen ein Ende der Gewalt und Kriminalität, egal wie.
Franco und Bolsonaro stehen damit stellvertretend für den Riss, der durch die brasilianische Bevölkerung geht. Unlängst forderte der Abgeordnete Rodrigo Amorim von der erzkonservativ-fundamentalistischen Bolsonaro-partei PSL für jene Polizisten, die bei einem Schlag gegen Drogenbanden 13 Verdächtige eingekreist und erschossen hatten, eine Würdigung des Parlamentes. Die linke Opposition, der auch Franco angehörte, spricht dagegen von einem Massaker. Viel weiter können die Interpretationen nicht auseinanderliegen.
Amorim hatte Anfang Oktober zudem ein Straßenschild mit dem Namen Francos zerstört, das ihre Anhänger kurzerhand an einem Platz im belebten Cinelândia-viertel aufgehängt hatten. Und niemand geringerer als Bolsonaros Sohn Flávio hatte die Zerstörungsaktion sofort gutgeheißen: „Es gab an dem Platz schon ein Straßenschild. Und die PSOL hatte gedacht, über dem Gesetz zu stehen und dass man Straßennamen auf eigene Faust ändern kann.“Flávio Bolsonaro war im Übrigen auch der einzige Abgeordnete des Parlaments in Rio de Janeiro, der gegen die posthume Verleihung der Medaille „Tiradentes“für herausragende Dienste an Franco stimmte. Im Dezember nahm Francos Vater die Auszeichnung entgegen.
Im Parlament gab es damals Tränen, Beifall und auch Wut, weil der Mord immer noch nicht aufgeklärt ist. Das wenig pietätvolle Verhalten von Flávio Bolsonaro und Rodrigo Amorim, die behaupteten, die ermordete Stadträtin habe mit ihrer Politik die Gewalt in den Favelas sogar noch gefördert, steigerten freilich den Ruhm Francos im Land noch weiter. Längst ist das zerstörte Straßenschild zu einem Symbol des Widerstands gegen die Bolsonaro-politik geworden, obwohl der Mord an Franco lange begangen wurde, bevor Bolsonaro zum Präsidenten gewählt wurde. Ideologisch freilich gehörten beide immer schon zu verschiedenen Lagern. Und Bolsonaro wirft der PSOL zudem vor, mitverantwortlich für das Messerattentat zu sein, zu dessen Opfer er im Wahlkampf geworden war. Der Angreifer hatte Kontakte zum Psol-umfeld.
Ende Januar starteten die Sicherheitskräfte imwesten von Rio in der Region „Rio das Pedras“, einer Bolsonaro-hochburg, die groß angelegte Operation„os Intocaveis“(die Unangreifbaren). Es war ein Schlag gegen eine der ältesten Milizengruppen Rios, bei der auch fünf führende Mitglieder verhaftet wurden, die im Verdacht stehen, an der Ermordung Francos und ihres Chauffeurs beteiligt gewesen zu sein. Im Verdacht steht insbesondere Marcello Siciliano, Abgeordneter im Stadtparlament, dem vorgeworfen wird, den Mord bestellt zu haben. Franco und Siciliano hatten zuvor hitzige Auseinandersetzungen über umstrittene Polizeieinsätze.
Es gibt indes Hinweise, dass der Bolsonaro-clan Kontakte zu den Milizen haben soll, die auch in dubiose Immobiliengeschäfte verstrickt sind. Das macht den Fall Franco noch brisanter, als er ohnehin schon ist. Das Klima ist inzwischen völlig vergiftet. Anfang Februar stellte die sozialistische Abgeordnete Daniella Monteiro Strafanzeige gegen unbekannt, weil jemand auf den verstaubten Scheiben ihres auf einem reservierten Parlamentsparkplatzes stehenden Autos daswort„bala“(Kugeln) gemalt hatte sowie kleine Kreise, die Einschüsse darstellen sollten. Monteiro war im Beraterstab von Franco. Ihre Mitstreiterin Petrone will sich aber nicht einschüchtern lassen: „Eine Form, sich an Marielle zu erinnern, an alles, was sie war, was sie darstellte, ist es, ist ihrem Vorbild zu folgen, den Kampf fortzusetzen und keinen Schritt zurückzuweichen.“