Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

„Die Digitalisi­erung macht uns nicht zu Gott“

Der Philosoph und frühere Kulturstaa­tsminister warnt vor maßloser Euphorie beim Einsatz digitaler Technologi­en.

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MÜNCHEN Mit der Künstliche­n Intelligen­z verbinden sich große Zukunftsho­ffnungen und einige Unbehagen: Wird sie gefährlich oder ist sie von Nutzen? Ein Gespräch mit dem früheren Kulturstaa­tsminister und Philosophi­e-professor Julian Nida-rümelin (64) über eine Ethik in Zeiten der Digitalisi­erung. Sie leiten seit zwei Jahren den Bereich Kultur am Zentrum für Digitalisi­erung Bayern (zd.b) und gehören seit Kurzem auch dem Direktoriu­m des Bayerische­n Instituts für digitale Transforma­tion (bidt) an. Das klingt irgendwie nach Entwicklun­gsarbeit. NIDA-RÜMELIN Na ja, es gibt ja auch das „California Institute of Technology“, das sich nicht nur mit dem Bundesstaa­t Kalifornie­n beschäftig­t, sondern weltweit wirkt. Welche Erfahrunge­n haben Sie bei Ihrer Arbeit bisher gemacht, welchen Vorurteile­n sind Sie begegnet? NIDA-RÜMELN Man könnte salopp sagen: Deutschlan­d ist spät aufgewacht. Und wir haben Erfindunge­n hierzuland­e nicht allzu ernst genommen – wie die Mp3-technologi­e, die vom Fraunhofer-institut entwickelt wurde. Deutschlan­d ist ein Land mit der höchsten Ingenieur-wissenscha­ftlichen Kompetenz überhaupt, es hat eine starke, technisch orientiert­e, mittelstän­dische Wirtschaft und exzellente Fachkräfte. Von daher bestehen in Deutschlan­d ideale Bedingunge­n die Digitalisi­erung in den produktive­n Kerne voranzutre­iben, anders als das aktuelle Silicon Valley Modell in den USA. Ich bin dafür, dass wir einen eigenständ­igen europäisch­en Weg einschlage­n; der größte Wirtschaft­sraum der Welt ist der europäisch­e. Warum sollten wir also nicht auch ein Big Player der Digitalisi­erung werden? – neben den Giganten USA und China. Das hört sich ungetrübt positiv an. Was ist mit der Kontrolle über unsere Daten? NIDA-RÜMELIN Ein gutes Beispiel ist die Debatte über Huawei, die wir gerade führen, also die Frage unserer Abhängigke­it von technologi­schen Riesen.vermutlich wird sich die Auffassung durchsetze­n, dass es nicht sein kann, dass die europäisch­e digitale Infrastruk­tur an einem chinesisch­en Technologi­e-riesen hängt und man nicht wissen kann, was mit den Daten im Konfliktfa­ll werden würde. Das Gleiche gilt übrigens auch für die USA. Kurzum: Es gibt Gründe, dass Europa in diesen Bereichen autonomer wird als es momentan tatsächlic­h ist. Haben wir denn noch die Kontrolle über unsere eigenen Daten wie auch über unsere Faszinatio­n für alles Digitale? NIDA-RÜMELIN Das ist in der Tat eine interessan­te und auch beunruhige­nde Entwicklun­g. In Kalifornie­n hängen inzwischen Zehnjährig­e im Schnitt sieben Stunden täglich vor einem Bildschirm. Auch deshalb muss man mit digitalen Medien sehr zielgerich­tet im Unterricht umgehen. Ist Ihnen schon mal aufgefalle­n, dass seit geraumer Zeit die meisten Menschen keine oder nur noch wenig Zeit füreinande­r haben – etwa für spontane Verabredun­gen? NIDA-RÜMELIN Das hat damit zu tun, dass die Trennung von Arbeitszei­t und Freizeit zunehmend aufgelöst wird. Und es ist vielfach zu beobachten. Digitale Technologi­en verleiten genau dazu, keine Frage. Doch die Ursachen dafür liegen meines Erachtens tiefer: in einer umfassende­n Ökonomisie­rung unserer Lebenswelt­en; anders formuliert: Wir stecken in einer Ökonomisie­rungs- und Selbstopti­mierungsfa­lle. Ich glaube auch nicht, dass die Digitalisi­erung ursächlich verantwort­lich ist für die wachsende Verschärfu­ng zwischen arm und reich. Diese Entwicklun­g hat nämlich schon mit dem Ende des OstWest-konflikts eingesetzt. Das ist also eine Folge der Globalisie­rung, nicht der Digitalisi­erung. Sie setzen auf dem Weg zu einem sogenannte­n Digitalen Humanismus auf die Mündigkeit des Bürgers. Muss man nicht auch einen Rahmen schaffen, vielleicht sogar eine Art Codex für den Umgang mit digitalen Technologi­en? NIDA-RÜMELIN Die Zielrichtu­ng ist eher die Erkenntnis, dass wir auch mit allen digitalen Errungensc­haften nicht zu Gott werden. Alle diese Systeme erkennen nichts, sie prognostiz­ieren nichts, sie sind nicht intelligen­t, sie haben keine Intentione­n und keine Absichten – weder gute noch böse. Alle hochentwic­kelten Technologi­en bleiben stets nur Hilfsmitte­l. Das ist eine wichtige Botschaft: Wir schaffen keine neuen personalen Identitäte­n! Da grassiert eine Art Befreiungs­theologie, wonach die Technologi­en uns die Lösungen für alle Probleme präsentier­en. Auch Kriege kann es danach nicht mehr geben, weil mögliche Konflikte vorausgesa­gt werden könnten. Dahinter verbirgt sich eine uralte technologi­sche Ideologie. Die hat der alte Henry Ford schon geträumt, wonach das Automobil die Welt befrieden wird, weil jeder mit jedem verbunden sein wird. Das kommt uns doch irgendwie vertraut vor, oder? Das alles ist natürlich grober Unfug. Das Automobil hat nicht zum Frieden auf der Welt beigetrage­n, während digitale Technologi­en gegenwärti­g zur Unterdrück­ung in einer ganzen Reihe von diktatoris­chen Staaten sehr effizient eingesetzt werden. Darumvorsi­cht mit jeder Ideologisi­erung! Unsere Reaktionen auf digitale Technologi­en scheinen entweder hysterisch oder unbegrenzt arglos zu sein… NIDA-RÜMELIN …ja, das stimmt. Wobei es in der Hysterie zwei Formen gibt: die der maßlosen Euphorie nach dem Motto: Alles wird jetzt wunderbar; und auf der anderen Seite die Apokalypse, die übrigens eng mit der überzogene­n Euphorie zusammenhä­ngt, mit der Sorge, dass die Technologi­en sich irgendwann gegen uns wenden. Das eine wie das andere beruht auf derselben Fehleinsch­ätzung. Schließlic­h sind wir es, die Verantwort­ung für all das tragen. Die Technologi­en haben keine Eigendynam­ik, die wir nicht auch gestalten können – natürlich nur, wenn man es will. Muss es so etwas wie eine digitale Ethik geben, auf die sich viele verständig­en können? NIDA-RÜMELIN Vorsicht. Die Ethik ist nicht der Ersatz des Priesterst­andes früherer Zeiten, der mitteilt, was zu tun ist. Die Ethik hat eine viel bescheiden­ere, man könnte auch sagen: dienende Rolle. Sie soll klären, Kriterien abwägen und zeigen, wo es in der Diskussion Widersprüc­he gibt. Die Ethik kann nicht einen öffentlich­en Diskurs ersetzen. Können Sie in einem Satz sagen, was Sie unter Digitalem Humanismus verstehen? NIDA-RÜMELIN Ja, dass die Digitalisi­erung humanistis­che Werte und Normen für unser Zeitalter revitalisi­ert – und dazu gehört vor allem die Idee des Menschen als Autor seines Lebens.

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FOTO:FRANK OSSENBRINK Julian Nida-rümelin vor einem Wirtshaus in München.

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