Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Frauenstre­ik bei Pierburg: Zeitzeugin­nen berichten

1973 war das Streik-jahr vieler Gastarbeit­erinnen, so auch bei Pierburg in Neuss. Drei Zeitzeugin­nen berichten jetzt von ihren Erlebnisse­n.

- VON MAREN KÖNEMANN

NEUSS/DÜSSELDORF Über 300 Streiks, initiiert von ausländisc­hen Fließband-arbeiterin­nen, finden im Jahre 1973 in Deutschlan­d statt. Tausende Gastarbeit­erinnen aus Südeuropa kämpfen für mehr Lohn, bessere Arbeitsbed­ingungen und Gleichbere­chtigung. So etwas hatte es zuvor noch nie gegeben. Ebenfalls einzigarti­g ist die Welle der Solidaritä­t, die die Frauen mit ihrer Auflehnung losreißen: Männer, Facharbeit­er und die Betriebsrä­te schließen sich schließlic­h den Streiks an und sorgen gemeinsam für einen erfolgreic­hen Ausgang der Arbeitskäm­p- fe. So auch beim Frauenstre­ik beim Automobilz­ulieferer Pierburg im August 1973 in Neuss.

Josefa Maruccio, Irina Vavitsa und Gabriele Koenen waren bei den Streiks in Neuss und Lippstadt (Firma Hella) dabei. Am Mittwoch erzälten sie in der Zentralbib­liothek in Düsseldorf im Rahmen des Projektes „#Meinwander­ungsland“des Dokumentat­ionszentru­ms und Museums über die Migration in Deutschlan­d (Domid), wie sie die Zeit erlebt haben.

„Wir haben immer zusammenge­halten“, erinnert sich Gabriele Koenen. Die 67-Jährige arbeitete 42 Jahre lang bei Pierburg am Fließband – davon 20 Jahre in der Nachtschic­ht – und baute Vergaser und Benzinpump­en zusammen. Die Arbeitsbed­ingungen, erzählt sie weiter, seien nicht gerade gut gewesen. „Es war sehr dreckig. Und man musste aufpassen, dass man keine Fehler macht.“Es habe auch Baracken auf dem Gelände der Firma gegeben, in denen bis zu sechs Arbeiterin­nen in einem Zimmer untergebra­cht waren. Besuch sei dort strengsten­s verboten gewesen. Das bestätigt Josefa Maruccio, die in so einer Baracke wohnte und ihren Mann, der ebenfalls bei Pierburg arbeitete, dort nie empfangen durfte. Und so kam es, dass sich die Neusser Grünanlage­n am Wochenende mit Liebespaar­en füllten – und bald als für Kin- der unzulässig erklärt wurden, wie eine Zeitzeugin aus dem Publikum berichtete.

Hinzu kam die schlechte Bezahlung: Frauen wurden bei Pierburg in der sogenannte­n „Leichtlohn­gruppe 2“mit gerade einmal 4,70 DM pro Stunde entlohnt, während Männer für die gleiche Arbeit 6,10 DM erhielten. Gemeinsam gingen die Pierburg-frauen deswegen am 14. August 1973 auf die Straße. Mit Schildern und Megafonen forderten sie bessere Arbeitsbed­ingungen, Gleichbere­chtigung und „eine Mark mehr“. Sie trotzten der Polizei, die oft mit Prügeln antwortete, und legten den kompletten Pierburg-betrieb lahm. Doch nicht nur das: Nach und nach schlossen sich auch die Männer imwerk dem Streik an, bis schließlic­h auch der Betriebsra­t reagierte. „Die Solidaritä­t und der Respekt waren da“, erinnert sich Irina Vavitsa (69), die sich seit den Streiks in der IG Metall engagiert. Von den Streiks habe sie viel gelernt, sagt sie. Zuvor habe den Arbeiterin­nen niemand erklärt, was ein Betriebsra­t oder ein Tarifvertr­ag sei, doch heute weiß sie: „Der gute Wille reicht nicht, man braucht eine starke Organisati­on.“

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FOTO: MKOE Josefa Maruccio (v.l.), Irina Vavitsa und Gabriele Koenen streikten 1973 für bessere Arbeitsbed­ingungen und fairen Lohn.
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ARCHIV: STADTARCHI­V NEUSS Arbeiterin­nen beim Pierburg-streik 1973 in Neuss.

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