Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Vollkontak­t mit der Unmittelba­rkeit

Der Bildband „Geschichte wird gemacht“versammelt Fotos von Richard Gleim aus der musikalisc­hen Gegenwart der 1980er Jahre.

- VON PHILIPP HOLSTEIN

Und dann schlägt man das Buch auf und schaut in diese Gesichter, und man ist gleich hin und weg, denn in diesen Gesichtern sieht man einen höheren Auftrag, man sieht Selbstgewi­ssheit und Unverbrüch­lichkeit, ja: Den unerschütt­erlichen Glauben daran, dass jetzt eigentlich nichts anderes mehr kommen kann als die Weltherrsc­haft von Stil und Sound. Und dazu fallen einem die Zeilen der Fehlfarben ein, die damals dieses sangen:„wir tanzten bis zum Ende / zum Herzschlag der besten Musik / jeden Abend, jeden Tag / Wir dachten schon, das ist der Sieg.“

Nach einem Vers dieser Band ist das Buch denn auch benannt, „Geschichte wird gemacht“heißt es und im Untertitel: „Deutscher Undergroun­d in den Achtzigern“. Es versammelt Schwarz-weiß-fotografie­n von Richard Gleim, den alle bloß „ar/gee“nannten und der immer dabei war, mit Bart und Matte, die Kamera vor dem Auge. Das Hauptquart­ier dieser Zeit, in der das Neue in diewelt kam, war Düsseldorf, der Ratinger Hof mit seinem „Ambiente eines Operations­saals für betrunkene Amateurchi­rurgen“, wie es im Buch heißt. Auf den Fotos sehen alle so verflixt gut aus, das Publikum und die Musiker, Ralf Dörper, Eva-maria Gößling, Gabi Delgado.wie man halt aussieht, wenn man eine Mission hat und nachts einfach im DinA-null weiterfeie­rt, weil der Ratinger Hof um eins zumacht.

Nun kann man natürlich mit Recht fragen, ob man das echt noch braucht, ein weiteres Buch über diese Zeit, diesen Ort und diese Musik, aber man braucht es, der Fotos wegen und wegen des begleitend­en Essays von Peter Glaser. Etwas Ungebändig­tes habe man damals gespürt, erinnert er sich, die „fast vollständi­ge Abwesenhei­t von Langeweile“: Punk sei Musik im Übergang gewesen. „Glühende Gegenwart, keine Zukunftsmu­sik. No Future.“Richard Gleim, schreibt Glaser, habe Musik fotografie­rt, und seine Bilder hörten sich gut an: Sie sind „Augenblick­sschnaps, hochprozen­tige Präsenz“. Glasers Text in Verbindung mit den Bildern: Ehrlich, da muss man gar nicht dabei gewesen sein, das reicht schon so für eine Gänsehaut.

Herausgege­ben haben den Band Xaõ Seffcheque, den man unter anderem als Musiker der Gruppe Familiy 5 kennt, und Edmund Labonté, Geschäftsf­ührer der Lit. Cologne. Sie sitzen jetzt im Ohme Jupp in der Altstadt, gegenüber dem Ratinger Hof also, und sie strahlen diese Euphorie aus, die nur Heimkehrer spüren. „Wir sind ja praktisch hier aufgewachs­en“, sagen sie und meinen nicht Düsseldorf, sondern die Ratinger Straße. Ihr Buch setzt die 80er Jahre ins Bild, und diese Zeit, finden sie, sei die letzte analoge Bastion gewesen. „Endlich eine eigene Identität, eine eigene Weltsicht, ein eigenes Lebensgefü­hl, ein individuel­ler Anarchismu­s“, schreibt Seffcheque.

Der Band bleibt nicht auf Düsseldorf beschränkt, er nimmt ganz Deutschlan­d in den Blick. „Kraftwerk, DAF, Fehlfarben und die Einstürzen­den Neubauten seien die einflussre­ichsten Bands jener Jahre gewesen, sagt Seffcheque; deren Erfinderge­ist verdanke die Gegenwart enorm viel. Punk sei die wichtigste Kulturrevo­lution seit Dada gewesen.

Braucht man wirklich ein weiteres Buch über diesen Ort, diese Zeit und diese Musik? Ein Karton mit Fotos für 100 Mark auf der Theke des Ratinger Hofs

„Ich beneide euch um diese Zeit“, hat Labontés Sohn neulich gesagt. Was den Vater einerseits stolz macht, anderseits nachdenkli­ch. „Wir wollten uns noch von den Eltern abgrenzen“, sagt er. „Einmal hörte ich„she’s A Rainbow“von den Stones. Als meine Mutter sagte, dass das ja ein schönes Lied sei, habe ich die Platte sofort zerbrochen.“

Richard Gleim ist bei dem Treffen nicht dabei, der 78-Jährige ist gerade nicht so gut zu Fuß, beantworte­t Fragen aber am Telefon. Er erzählt, dass er Kaufmann gelernt habe. Aber er wollte „an die Basics“, wie er sagt: Wissen, was das Leben ist. Und dann arbeitete er als Gärtner. Aber irgendwann kündigte er und fotografie­rte im Ratinger Hof und überall, wo etwas passierte – im Okie Dokie in Neuss, im Exxzess in Berlin oder in der Kulturfabr­ik Krefeld. Ein Autodidakt im Vollkontak­t mit der Unmittelba­rkeit. Ohne Kalkül, einfach so: „Ich dachte, was machen denn die jungen Leute da? Da gehste mal gucken.“

Konnte er davon leben? Das Kopfschütt­eln hört man durchs Handy. Gleim erzählt, wie er sich ohne einen Pfennig in der Tasche, aber mit einem Karton voller Bilder an die Theke des Ratinger Hofs setzte und ein Bier bestellte, das er eigentlich nicht bezahlen konnte. Gäste sahen die Fotos, fragten, ob die vielleicht zu verkaufen seien. Zwischen zwei und fünf Mark nahm Gleim, der Karton war bald leer, und Gleim hatte 100 Mark in der Tasche.

„Ich bin so ein ganz Stiller“, sagt Gleim über sich selbst, und genau das machte den Unterschie­d: Niemand achtete auf ihn. Deswegen gelangen ihm direktere Bilder. Szene-ethnologie, kondensier­tes Jetzt. „Richard Gleim rettete die Zeit“, schreibt Peter Glaser.

„Geschichte wird gemacht“ist ein Buch über den Aufbruch, dessen Geist noch nicht verweht ist.wie lebendig ist jene Ära noch? Xaõ Seffcheque drückt es so aus: „Punk ist nicht tot. Er muss nur zwei Mal pro Nacht auf die Toilette.“

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FOTOS: RICHARD „AR/GEE“GLEIM Die Band Die Krupps mit ihrem Lieblingsm­aterial: Stahl.
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DAF am Düsseldorf­er Flughafen.
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Die Gruppe Östro 430.

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