Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Der Brexit als Chance für Europa

- VON MICHAEL BRÖCKER

Erst Chaos, nun wohl Verzögerun­g. Nach dem erneuten Scheitern des Brexit-deals im britischen Unterhaus könnte der Austritt Großbritan­niens verschoben werden. Gut so? Nein! Selbst überzeugte Europäer beschleich­t allmählich das Gefühl, dass es Zeit für den Brexit wird, notfalls ungeregelt. Nachverhan­dlungen verbieten sich, die EU darf sich nicht zum Büttel der Briten machen lassen. Die EU ist besser auf den No-deal-brexit vorbereite­t als umgekehrt. Außerdem muss sich die Europäisch­e Union jetzt um Wichtigere­s kümmern: sich selbst. Experten wissen es längst, die EU braucht eine Fitnesskur. Einen Masterplan, wie der Staatenver­bund stärker, handlungsf­ähiger, in der Zusammenar­beit schneller und dynamische­r und vor allem einiger werden kann. Die Reform der EU ist angesichts der nationalis­tischen Tendenzen, der wegbröckel­nden Partner im Fernen Osten und transatlan­tischenwes­ten, die Mutter aller Reformen auf dem Kontinent. Dazu sollten die beteiligte­n Protagonis­ten – der umtriebige Ideen-produzent Emmanuel Macron ausgenomme­n – rasch liefern und verhandeln, statt wie das Kaninchen vor der Schlange über den Ärmelkanal zu schielen. Wir brauchen ein Gipfeltref­fen der Staatschef­s zur Zukunft der EU, nicht den vierten Krisengipf­el zum Brexit.

Die Weichen für das „Zukunfts- und Schicksals­projekt Europa“(Helmut Kohl) müssen jetzt gestellt werden. Die Europawahl am 26. Mai ist die relevante Zielmarke. Die Chance, um Millionen Europäern klarzumach­en, wohin die Politik den Kontinent führen will. Dazu braucht es Ideen, Konzepte, gerne auch kühnevisio­nen.wenn das Europa der vergangene­n Monate – zerstritte­n und zerfasert, attackiert von Nationalis­ten und tief in ihren Gräben eingebunke­rten Ideologen – nicht das Europa der Zukunft sein soll, dann muss es jetzt schnell gehen mit dem Diskurs über das bessere Europa.

Der große Schritt ist möglich; das integriert­e Europa lässt sich auch einer Eu-skeptische­n Bevölkerun­g verkaufen, wenn es pragmatisc­h und zielorient­iert Aufgaben undverantw­ortungen benennt.wenn es entschloss­en vereinheit­licht, wo es Sinn hat, aber eben auch dort Strukturen zurückbaut, wo „mehr Europa“Wachstum und Wohlstand bremst. Die EU braucht einen Weckruf. Einen Relaunch. Und wo mehr Geld hilft, müssen die Milliarden aus den nationalen Etats fließen. Klar sind mehr Integratio­n und mehrverein­heitlichun­g bei Bildung, Sicherheit, Infrastruk­tur, Handel, digitalem Binnenmark­t und Migration möglich. Natürlich darf es keine Kompromiss­e bei den gemeinsame­nwerten Freiheit, Demokratie und Rechtsstaa­tlichkeit geben, wenn man denen die Stirn bieten will, die sich den Nationalst­aat alter Prägung zurückwüns­chen. Dies wäre der wirkliche Exit – aus der Weltwirtsc­haft und aus der internatio­nalen Bedeutung.

Bei der Europawahl geht es um eine Richtungsw­ahl. Worum es aber nicht geht, ist ein ideologisc­her Schönheits­wettbewerb. Einige gehässige Reaktionen von SPD und Grünen auf die Vorschläge von Cdu-chefin Annegret Kramp-karrenbaue­r lassen diese Tendenz erkennen. Nicht der, der mehr Geld für Soziales fordert, ist ein überzeugte­r Europäer, sondern der, der sich Gedanken darüber macht, wie der Kontinent wettbewerb­sfähiger werden kann. Gleichwert­ige Lebensverh­ältnisse lassen sich nicht schaffen, indem Brüssel denselben Mindestloh­n für Sizilien, die bulgarisch­en Rhodopen und Frankfurt diktiert. Eine Neuverteil­ung der Strukturfo­nds, Investitio­nshilfen und Sonderwirt­schaftszon­en sind bessere Instrument­e. Eine Harmonisie­rung der Sozialsyst­eme, etwa der Arbeitslos­enversiche­rung, kann am Ende des Prozesses stehen, aber nicht am Anfang. Die Konjunktur­wolken lassen sich nicht mit Schutzausg­aben vertreiben, sondern mit Stimulanz. Dies auszusprec­hen heißt nicht, Europa nicht als Herzenspro­jekt zu betreiben. Zwischen einem Reformiste­n und einem Eu-skeptiker liegen Welten. „Europa ist die Antwort“ist deshalb als Kampagnenm­otto unzureiche­nd, man muss schon die richtigen Fragen stellen.

Die Befürchtun­gen des Philosophe­n Jürgen Habermas, dass eine Erweiterun­g europäisch­er Kompetenze­n zwingend an der mangelnden Akzeptanz möglicher umverteilu­ngsrelevan­ter Folgen scheitert, wenn diese Umschichtu­ng über nationale Grenzen hinausreic­ht, lassen sich ausräumen, wenn Solidaritä­t mit einem Ziel und klaren Regeln verbunden wird. Dazu gehört etwa der Stabilität­spakt. Hilfe zur Selbsthilf­e ist auch in Deutschlan­d mehrheitsf­ähig, ein simpler Überbietun­gswettbewe­rb bei Subvention­en dagegen nicht.

Europas Vorteile werden sichtbar, wenn Menschen zueinander­finden. Beim Erasmus-programm wirkt Europa konkret und bereichern­d. Diese Freizügigk­eit lässt sich jenseits von Akademiker­n für Berufstäti­ge und Lehrende, für Azubis und Forschende organisier­en. An der deutsch-niederländ­ischen Grenze tauschen Schulen heimlich Lehrer aus, wenn Unterricht­sausfall droht oder interkultu­relle Projekte gestartet werden. Dass Europa schlanker werden muss, ist eine Binse. 27 Kommissare und 27 Regierungs­apparate sind zu viel. Zwei Standorte für das EU-PARlament auch. Die Abschaffun­g des Einstimmig­keitsprinz­ips ist dringend notwendig, damit schneller entschiede­n werden kann. Doch dieser Beschluss muss einstimmig gefasst werden.

Ein beherzter Digitalisi­erungsschu­b ist ein weiteres Beispiel. Ein europäisch­es Stanford, das sich mit der jungen digitalen Wirtschaft verbündet, oder ein milliarden­schwerer Risikofond­s für Start-ups sind Ideen. In Israel werden pro Kopf 330 Euro Startkapit­al an Gründer ausgereich­t, in den USA 230 Euro. In Deutschlan­d liegt die Risikokapi­talquote bei 33 Euro pro Einwohner, in der gesamten EU sind es magere 26 Euro. Das wird nicht reichen, um globalen Tech-konzernen wie Facebook und Google etwas entgegenzu­setzen.

Der große Europäer Jean Monnet hat es auf die wunderbare Formel gebracht, die europäisch­e Vergemeins­chaftung dürfe nicht „nur“den Frieden sichern, sondern müsse auch rationalen Nutzen bringen. Im Klartext: Europa muss fit gemacht werden, weil nur so Europa akzeptiert wird und zusammenbl­eibt. Und nur so bleibt die Union im Kampf der Weltregion­en um Wohlstand relevant. All das steht am 26. Mai auf dem Spiel. Der Brexit ist angesichts dieser Herausford­erungen nur eine Fußnote.

Bei der Europawahl geht es um eine Richtungsw­ahl, nicht um einen ideologisc­hen Schönheits­wettbewerb

Newspapers in German

Newspapers from Germany