Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
Der Brexit als Chance für Europa
Erst Chaos, nun wohl Verzögerung. Nach dem erneuten Scheitern des Brexit-deals im britischen Unterhaus könnte der Austritt Großbritanniens verschoben werden. Gut so? Nein! Selbst überzeugte Europäer beschleicht allmählich das Gefühl, dass es Zeit für den Brexit wird, notfalls ungeregelt. Nachverhandlungen verbieten sich, die EU darf sich nicht zum Büttel der Briten machen lassen. Die EU ist besser auf den No-deal-brexit vorbereitet als umgekehrt. Außerdem muss sich die Europäische Union jetzt um Wichtigeres kümmern: sich selbst. Experten wissen es längst, die EU braucht eine Fitnesskur. Einen Masterplan, wie der Staatenverbund stärker, handlungsfähiger, in der Zusammenarbeit schneller und dynamischer und vor allem einiger werden kann. Die Reform der EU ist angesichts der nationalistischen Tendenzen, der wegbröckelnden Partner im Fernen Osten und transatlantischenwesten, die Mutter aller Reformen auf dem Kontinent. Dazu sollten die beteiligten Protagonisten – der umtriebige Ideen-produzent Emmanuel Macron ausgenommen – rasch liefern und verhandeln, statt wie das Kaninchen vor der Schlange über den Ärmelkanal zu schielen. Wir brauchen ein Gipfeltreffen der Staatschefs zur Zukunft der EU, nicht den vierten Krisengipfel zum Brexit.
Die Weichen für das „Zukunfts- und Schicksalsprojekt Europa“(Helmut Kohl) müssen jetzt gestellt werden. Die Europawahl am 26. Mai ist die relevante Zielmarke. Die Chance, um Millionen Europäern klarzumachen, wohin die Politik den Kontinent führen will. Dazu braucht es Ideen, Konzepte, gerne auch kühnevisionen.wenn das Europa der vergangenen Monate – zerstritten und zerfasert, attackiert von Nationalisten und tief in ihren Gräben eingebunkerten Ideologen – nicht das Europa der Zukunft sein soll, dann muss es jetzt schnell gehen mit dem Diskurs über das bessere Europa.
Der große Schritt ist möglich; das integrierte Europa lässt sich auch einer Eu-skeptischen Bevölkerung verkaufen, wenn es pragmatisch und zielorientiert Aufgaben undverantwortungen benennt.wenn es entschlossen vereinheitlicht, wo es Sinn hat, aber eben auch dort Strukturen zurückbaut, wo „mehr Europa“Wachstum und Wohlstand bremst. Die EU braucht einen Weckruf. Einen Relaunch. Und wo mehr Geld hilft, müssen die Milliarden aus den nationalen Etats fließen. Klar sind mehr Integration und mehrvereinheitlichung bei Bildung, Sicherheit, Infrastruktur, Handel, digitalem Binnenmarkt und Migration möglich. Natürlich darf es keine Kompromisse bei den gemeinsamenwerten Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit geben, wenn man denen die Stirn bieten will, die sich den Nationalstaat alter Prägung zurückwünschen. Dies wäre der wirkliche Exit – aus der Weltwirtschaft und aus der internationalen Bedeutung.
Bei der Europawahl geht es um eine Richtungswahl. Worum es aber nicht geht, ist ein ideologischer Schönheitswettbewerb. Einige gehässige Reaktionen von SPD und Grünen auf die Vorschläge von Cdu-chefin Annegret Kramp-karrenbauer lassen diese Tendenz erkennen. Nicht der, der mehr Geld für Soziales fordert, ist ein überzeugter Europäer, sondern der, der sich Gedanken darüber macht, wie der Kontinent wettbewerbsfähiger werden kann. Gleichwertige Lebensverhältnisse lassen sich nicht schaffen, indem Brüssel denselben Mindestlohn für Sizilien, die bulgarischen Rhodopen und Frankfurt diktiert. Eine Neuverteilung der Strukturfonds, Investitionshilfen und Sonderwirtschaftszonen sind bessere Instrumente. Eine Harmonisierung der Sozialsysteme, etwa der Arbeitslosenversicherung, kann am Ende des Prozesses stehen, aber nicht am Anfang. Die Konjunkturwolken lassen sich nicht mit Schutzausgaben vertreiben, sondern mit Stimulanz. Dies auszusprechen heißt nicht, Europa nicht als Herzensprojekt zu betreiben. Zwischen einem Reformisten und einem Eu-skeptiker liegen Welten. „Europa ist die Antwort“ist deshalb als Kampagnenmotto unzureichend, man muss schon die richtigen Fragen stellen.
Die Befürchtungen des Philosophen Jürgen Habermas, dass eine Erweiterung europäischer Kompetenzen zwingend an der mangelnden Akzeptanz möglicher umverteilungsrelevanter Folgen scheitert, wenn diese Umschichtung über nationale Grenzen hinausreicht, lassen sich ausräumen, wenn Solidarität mit einem Ziel und klaren Regeln verbunden wird. Dazu gehört etwa der Stabilitätspakt. Hilfe zur Selbsthilfe ist auch in Deutschland mehrheitsfähig, ein simpler Überbietungswettbewerb bei Subventionen dagegen nicht.
Europas Vorteile werden sichtbar, wenn Menschen zueinanderfinden. Beim Erasmus-programm wirkt Europa konkret und bereichernd. Diese Freizügigkeit lässt sich jenseits von Akademikern für Berufstätige und Lehrende, für Azubis und Forschende organisieren. An der deutsch-niederländischen Grenze tauschen Schulen heimlich Lehrer aus, wenn Unterrichtsausfall droht oder interkulturelle Projekte gestartet werden. Dass Europa schlanker werden muss, ist eine Binse. 27 Kommissare und 27 Regierungsapparate sind zu viel. Zwei Standorte für das EU-PARlament auch. Die Abschaffung des Einstimmigkeitsprinzips ist dringend notwendig, damit schneller entschieden werden kann. Doch dieser Beschluss muss einstimmig gefasst werden.
Ein beherzter Digitalisierungsschub ist ein weiteres Beispiel. Ein europäisches Stanford, das sich mit der jungen digitalen Wirtschaft verbündet, oder ein milliardenschwerer Risikofonds für Start-ups sind Ideen. In Israel werden pro Kopf 330 Euro Startkapital an Gründer ausgereicht, in den USA 230 Euro. In Deutschland liegt die Risikokapitalquote bei 33 Euro pro Einwohner, in der gesamten EU sind es magere 26 Euro. Das wird nicht reichen, um globalen Tech-konzernen wie Facebook und Google etwas entgegenzusetzen.
Der große Europäer Jean Monnet hat es auf die wunderbare Formel gebracht, die europäische Vergemeinschaftung dürfe nicht „nur“den Frieden sichern, sondern müsse auch rationalen Nutzen bringen. Im Klartext: Europa muss fit gemacht werden, weil nur so Europa akzeptiert wird und zusammenbleibt. Und nur so bleibt die Union im Kampf der Weltregionen um Wohlstand relevant. All das steht am 26. Mai auf dem Spiel. Der Brexit ist angesichts dieser Herausforderungen nur eine Fußnote.
Bei der Europawahl geht es um eine Richtungswahl, nicht um einen ideologischen Schönheitswettbewerb