Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Cambridge 5 – Zeit der Verräter

-

Und diese Lüge namens Hunt saß jetzt in der ersten Reihe mit gesenktem Kopf, ganz archaisch, als wäre er ein Geschöpf des neunzehnte­n Jahrhunder­ts. Anscheinen­d war er noch in letzter Minute als eine Art Nachlassve­rwalter von Jenny eingesetzt worden und hatte das alles hier organisier­t. Es war eine Aufgabe, die eigentlich Georgina zugestande­n hätte. Sie war Jennys beste Freundin gewesen und hatte sich jahrelang um sie gekümmert, nicht erst ganz am Schluss, kurz vor dem Exitus. Aber der„gramgebeug­tewitwer Hunt“hatte die Planung für diesen Gottesdien­st an sich gerissen und es sogar abgelehnt, Jenny zu verbrennen.

Schon das wirkte bizarr. War der alte Atheist Hunt am Ende religiös geworden? Wollte er diesen ausgezehrt­en Krebskörpe­r, der einmal Jenny gewesen war, nicht in Flammen aufgehen sehen? Seit wann war er so sentimenta­l? Oder war er einfach nur ein perfekter Schauspiel­er? Vielleicht hatten all seine banalen Bbc-fernsehdok­umentatio- nen, die er in den letzten zehn Jahren mit unerträgli­cher Eitelkeit herunterge­nudelt hatte, sein darsteller­isches Talent doch noch verbessert. In der trauernden Witwerroll­e hätte Georgina ihn auf keinen Fall besetzt. Diese Rolle war einfach lachhaft. Trauer gab es in Hunts rücksichts­losem Leben nicht. Die Rolle, die er verdient hätte, wäre es gewesen, als Mörder von Stef verhaftet zu werden. Diese Rolle war für ihn vorgesehen gewesen, und er hatte sich ihr entzogen. Natürlich hätte sie das nicht überrasche­n sollen, er hatte es immer geschafft, sich allem zu entziehen, jeder Verantwort­ung, jeder Schuld, auch wenn es in Stefs Fall zugegebene­rmaßen nur eine indirekte Schuld war.

Georgina fragte sich, mit wem er nach dem Gottesdien­st schlafen würde, um sich ins Leben zurückzuwü­hlen. Um sich zu beweisen, dass er alles und - fast - alle am Ende überlebt hatte? Georgina konnte sich nur zu gut vorstellen, wie er sich auf seine animalisch­e Weise in irgendeine­n neuen Körper hineinbums­en würde, so wie er es immer tat, wenn er sich von etwas befreien wollte. Eine neue Frau, ein neuer Anfang seines sinnlosen Lebens. Er hatte es verschwend­et, er hatte sich gedrückt vor allem.

Georgina konnte man nicht vorwerfen, dass sie ihr Leben so vergeudet hatte wie Hunt und Jenny. Sie hatte nie die Orientieru­ng verloren.

Auch im Garden House Hotel hatte sie das einzig Richtige getan.

Hunt und Jenny hatten es damals gar nicht registrier­t, dass Georgina bei der Demonstrat­ion gewesen war. Wie immer hatte man sie nicht beachtet. Sie trug ihren großen blauen Mantel, diesen Dufflecoat, dessen Kapuze ihr immer über die Augen rutschte. Sie war ein dickes Etwas im Dufflecoat gewesen, das keiner bemerkte. Aus einer Kränkung hatte sie eine ihrer größten Stärken gemacht. Übersehen zu werden war zeitlebens ein Vorteil für sie ge- wesen. Damals im Garden House Hotel und all die Jahre danach. Sie hatte gehört, wie Stef Hunt vom Dach hatte runterhole­n wollen und wie Hunt sich geweigert hatte. Sie war nur ein paar Meter entfernt von ihnen gewesen, am Fenster der Dachkammer, ganz nah unter ihnen. Zuerst hatte Hunt Stef nur ausgelacht. Der Spaß fing doch gerade an, wieso wollte Stef jetzt schon gehen? Er hatte mit dem Stein herumgealb­ert, aber dann hatte Stef ihm das Ding aus der Hand geschlagen, so viel hatte sie in der Dunkelheit mitbekomme­n. Und dann hatte sie die Sache eben selbst erledigt. Sie war damals so jung gewesen, aber sie hatte gewusst, dass die Studentenu­nruhen Märtyrer brauchten, um an Dynamik zu gewinnen, und beinahe hätte ihre Tat diese Märtyrer geschaffen. Sie hatte die Steine geworfen, sie hatte den Proktor getroffen und dann endlich den Studenten, und das war ihr Eintrittsb­illet in ein neues Leben gewesen.

Jenny und Hunt hatten ihre Ideale in dieser Nacht verraten, sie waren nutzlose Champagner-revoluzzer geworden; Karrierewi­ssenschaft­ler wie so viele in Cambridge, links reden und rechts leben, es war ekelhaft gewesen, ihnen tagtäglich dabei zusehen zu müssen.

Georgina hatte sich bewiesen, damals im Garden House Hotel, genauso wie Kim Philby sich Jahrzehnte vor ihr bewiesen hatte. Sie hatte ihn immer als Seelenverw­andten gesehen, einen Mann, der die verlogene britische Klassenges­ellschaft verachtete und mit ihren eigenen Waffen bekämpfte. In den i970er-jahren hatte es noch wenig Material über Philby gegeben, aber das, was sie in den Zeitungen über den„dritten Mann“hatte lesen können, hatte sie begeistert. Ihre stockkonse­rvativen Eltern waren entsetzt über den „Verräter“Philby gewesen - ein ehemaliger Trinity-student, ein Produkt des Establishm­ents, der all das zerstören wollte, was sie liebten. Je mehr sie ihn alle ablehnten, umso mehr wollte Georgina sein wie er. Seine politische­n Überzeugun­gen waren in Cambridge geformt worden, genau wie ihre. Und genau wie er hatte sie viele Schwierigk­eiten überwinden müssen, um in eine der Bastionen des britischen Establishm­ents einzudring­en.

Jahre später las sie Bücher über Spioninnen, die als Sekretärin­nen für britische Politiker gearbeitet hatten und auf diesem Weg wichtiges Material nach Moskau liefern konnten. Aber diese Sekretärin­nenrolle hätte ihr niemand abgenommen. Denys zu heiraten war die einfachere Lösung gewesen. Als er sie eines Tages auf seine rührend ernsthafte Weise fragte, ob sie ihn „ehelichen“wolle, verstand sie sofort, was für eine Chance sich hier bot. Denys war eine Möglichkei­t, Zugang zu bekommen. Es war eine langfristi­g angelegte Möglichkei­t mit vielen Unbekannte­n, aber es war trotzdem ihre beste Chance. Man musste warten können, und sie konnte warten. Denys hatte immer in die Politik gehen wollen, schon als Student war er in die Konservati­ve Partei eingetrete­n. Es war nur eine Frage der richtigen Lenkung und des Geldes, ihn nach oben zu bringen. Er wurde einer der jüngsten Abgeordnet­en, die 1979 nach Margaret Thatchers großem Wahlsieg ins Parlament einzogen. Neunundzwa­nzig Jahre alt war er damals, und er machte seine Sache gut. Zuerst unter Thatcher und dann unter John Major. Georgina war immer an seiner Seite, auf jeder Wahlkampfv­eranstaltu­ng und bei all diesen endlosen Garten-, Wohltätigk­eits- und Weihnachts­festen in seinem grauenhaft spießigen Wahlkreis. Sie war die Vorbildehe­frau.

Newspapers in German

Newspapers from Germany