Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
Als der Wagen nicht kam
Deren Antransport aus den umliegenden Feldern bewerkstelligte er dadurch, dass er den Bauern in der Beichte als Buße jeweils ein Stück der Anfuhr aufgab. Er trug eine schwarze Sammetweste mit eingestickten roten Herzen, die ihm die Jungfrauenkongregation gefertigt hatte. Das ganze Jahr hindurch hatte er im Knopfloch eine rote Nelke, die er selbst in unzähligen Kästen im Hause züchtete. Im Hausflur hing eine gusseiserne Plakette mit dem Kopf Bismarcks und darunter in polnisch und deutsch eine Aufschrift: „Dies ist nicht etwa Bismarck, sondern meinvater, der Rektor Urban.“Im Nachbardorf Cieschowa befand sich eine uralte, in Schrotholz gebaute Synagoge. Dort war früher dicht an der alten russischen Grenze eine große Judengemeinde gewesen, zu deren Gottesdiensten die Juden aus Russland hinkamen. Infolge der neuen Grenzziehung waren alle Juden abgewandert, da mit Fortfall der Grenze auch der mit dieser zusammenhängende Geschäftsverkehr entfallen war. Wenig pietätvoll verkauften die Juden die Synagoge meistbietend, und Ersteigerer des ehrwürdigen Bauwerks war der Pfarrer Urban, der es vor dem Abbruch retten wollte. Seitdem hatte er sich Kopfbogen drucken lassen: „Urban, katholischer Pfarrer und jüdischer Synagogenbesitzer“. Bei all diesen Narrheiten war er ein frommer und beliebter Priester, bei dessen polnischen Predigten die Leute sehr bald zu weinen anfingen, was in Oberschlesien als Gradmesser für eine gute Predigt galt. Diesewirkung konnte man auch im nahegelegenen Czenstochau beobachten, wo die Paulanermönche in ihrem Kloster auf der Jasna Góra, dem hellen Berg, den berühmten Wallfahrtsort der Schwarzen Muttergottes, eines altersgeschwärzten, byzantinischen Bildes, betreuen.
Nachbarbesitzer im Kreise Lublinitz war u. a. Graf Ludwig Carl Ballestrem. Er war der jüngere Sohn des bekannten Zentrumsparlamentariers und Reichstagspräsidenten. Ballestrem war Junggeselle und hatte sich in Kochschütz ein Barockschloss mit einem großartig entworfenen Park angelegt. Bei aller Güte besaß er eine geistreich angespitzte Zunge. In kindlicher Frömmigkeit diente er in seiner Schlosskapelle die Messe, war aber allen guten Dingen des Lebens dankbar zugetan. Er konnte mit innigemvergnügen lustige Geschichten erzählen, von denen mir die mit der Badewanne unvergesslich ist. Er war bei seinem Bruder zu Besuch in einem kleineren Landhaus, in dem das einzige Bad mit dem W.C. kombiniert war. Eines Morgens sitzt er stillvergnügt in der Badewanne und hat vergessen, die Tür zu verschließen. Plötzlich öffnet sich diese, und es tritt die zur Pflege des plötzlich erkrankten Bruders im Hause anwesende Ordensschwester herein, offenbar entschlossen, das W.C. zu benutzen. Was tut ein ebenso nackter wie frommer Graf unter solch prekären Umständen? Er räuspert sich nicht etwa diskret, er nimmt der Lage vielmehr jede Peinlichkeit, indem er die Schwester laut und deutlich mit dem dieser gebührenden katholischen Gruß „Gelobt sei Jesus Christus!“auf sein Dasein in der Badewanne aufmerksam macht.
Dem König von Sachsen in Sybillenort gehörte der an Koschentin angrenzende Waldbesitz Guttentag. Es bestand aber keine Verbindung mit ihm. Als ich eines Tages mit der Bahn von Breslau nach Lublinitz fuhr, sah ich, wie er bepackt mit einem Rucksack in ein Abteil der damals noch vorhandenen vierten Klasse stieg, um von Sybillenort nach Guttentag zu fahren. Ich kannte ihn vom Kriege her und beobachtete auf der weiteren Fahrt, wie wohl und gut unterhalten er sich dort bei den einfachen Leuten fühlte.
Ich fühlte mich in der vielfältigen und interessanten Arbeit recht wohl, obschon auf die Dauer mit fortschreitendem Alter die Abhängigkeit der Tätigkeit sicher lästig geworden wäre. Es ist immer schwierig, wenn Entscheidungen nach außen ergehen, die nicht selbständig getroffen werden, sondern im Innenverhältnis von dem Willen einer anderen Person abhängen. Diese interne Abstimmung mit dem Prinzen war zudem schwierig, weil er alle Entschlüsse nur mit dem Verstand treffen wollte. Das führte bei seinem Verantwortungsbewusstsein zu endlosen und mühseligen Erörterungen über das Für und Wider einer Sache. Bei der Abwägung der Gründe konnte er sich dann nicht entschließen, was ihm unangenehm war, und die Entscheidung musste ich dann doch meist treffen. Man kann eben nicht nur aus dem Verstande leben, die letzte Entscheidung bleibt vielmehr dem Instinkt und dem Glück überlassen.
Mein Freund Hans Lukaschek war deutsches Mitglied der Gemischten Kommission für Oberschlesien in Kattowitz. Kurz vor Weihnachten 1926 war zu diesem ein geheimnisvoller Mann gekommen, der ihm Nachrichten über polnische militärische Dinge angeboten hatte. Bei dem ihm bekannten Hunger der deutschen militärischen Abwehr auf solche Nachrichtenverbindungen hatte er ohne näheres Eingehen auf das Angebot dem Mann eine hinhaltende Antwort gegeben, um inzwischen festzustellen, ob die Abwehr Interesse an der Verbindung habe. Es war ihm bewusst, dass eine jegliche, auch nur hinhaltende Einlassung mit einem solchen Agenten sich nicht mit seiner Stellung und deren diplomatischen Vorrechten vertrug. Er kannte auch aus der Abstimmungszeit hinreichend die Unsolidität solcher meist für beide Seiten arbeitenden Agenten. Da der Mann aber einen seriösen Eindruck machte, entschloss er sich zu dem Risiko einer hinhaltenden Antwort. Natürlich war es ein übler agent provocateur gewesen, den die Polen vorgeschickt hatten, um den wegen seiner Volkstumsarbeit ihnen sehr lästigen Lukaschek in seiner Stellung zu diskreditieren. Am Vorabend vor Weihnachten ließen sie die Bombe platzen, und in der gesamten polnischen Presse erschien in großen Schlagzeilen die Nachricht, das deutsche Mitglied der Gemischten Kommission treibe unter Missbrauch seiner diplomatischen Vorrechte Spionage gegen Polen. Es wäre leicht gewesen, einfach zu erklären, der Mann sei zwar zu ihm gekommen, aber sofort vor die Tür gesetzt worden. Auf jeden Fall hielt er nun seine zukünftige Arbeit in der Gemischten Kommission für gefährdet durch diesen Vorfall, und im Einvernehmen mit dem Auswärtigen Amt legte er daher sein Amt nieder.
Lukaschek schlug mich als seinen Nachfolger vor, weil er glaubte, dass ich seine Arbeit in seinem Sinne fortsetzen werde.
(Fortsetzung folgt)