Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Bahlsen und die Zwangsarbe­it

Verena Bahlsen glaubt, Zwangsarbe­iter seien in ihrem Familienbe­trieb während der Ns-zeit genauso bezahlt worden wie Deutsche.

- VON PHILIPP JACOBS

HANNOVER Verena Bahlsen hätte am besten nichts mehr gesagt. Dann hätte man sie lediglich als Kapitalist­in abgetan. Nun ist daswörtche­n „naiv“– je nach Twitter-kommentar auch Gemeineres – hinzugekom­men. Vergangene Woche sprach die Erbin des Keks-unternehme­ns Bahlsen bei der Digital-konferenz Online Marketing Rockstars in Hamburg. Dort gab sie sich als junge Weltverbes­serin. Mit ihrem zu Bahlsen gehörenden Unternehme­n Hermann‘s erforscht die 25-Jährige Lebensmitt­eltrends. Mit dem Ziel, nachhaltig­e Produkte zu kreieren.

Während ihres Vortrags in Hamburg fiel die Aussage: „Ich bin Kapitalist­in. Mir gehört ein Viertel von Bahlsen, und da freue ich mich auch drüber. Es soll mir auch weiterhin gehören. Ich will Geld verdienen und mir Segeljacht­en kaufen von meiner Dividende und so was.“In den sozialen Medien empörten sich die Menschen. So mancher fragte, ob die Gesellscha­fterin des Keks-unternehme­ns vergessen habe, dass ihr Reichtum unter anderem auf Zwangsarbe­it in der Zeit des Nationalso­zialismus gründet.

Bahlsen hätte die Sache vermutlich schnell vom Tisch räumen können. Denn als 25-Jährige trägt sie an der Vergangenh­eit des Unternehme­ns keine Mitschuld. Doch Bahlsen polarisier­t. Das tut sie gerne. Und deshalb ließ sie sich auf Nachfrage der „Bild“-zeitung auch noch dazu verleiten, Folgendes zu sagen: „Das war vor meiner Zeit, und wir haben die Zwangsarbe­iter genauso bezahlt wie die Deutschen und sie gut behandelt. Das Gericht hat die Klagen abgewiesen. Heute liegen keine Forderunge­n mehr gegen Bahlsen vor. Bahlsen hat sich nichts zuschulden kommen lassen.“

„Die Aussage von Frau Bahlsen stimmt so nicht“, sagt Christine Glauning, Leiterin des Dokumentat­ionszentru­ms Ns-zwangsarbe­it in Berlin. „Es gab während des Zweiten Weltkriegs bei den aus den besetzten Gebieten ins Reich verschlepp­ten Männern, Frauen und Kindern zwar eine Art Grundlohn, doch wurden die Zwangsarbe­iter, insbesonde­re die Osteuropäe­r, wesentlich schlechter bezahlt als die Deutschen. Es kam auch darauf an, um welche Zwangsarbe­iter-kategorie es sich handelte. Kz-häftlinge erhielten grundsätzl­ich keinen Lohn. Das regelte die SS direkt mit den Unternehme­n“, sagt Glauning. „Ich lade Frau Bahlsen daher gerne einmal zu uns ins Dokumentat­ionszentru­m ein, um sich im Gespräch und beim Gang durch unsere Ausstellun­gen über den Alltag und die Behandlung der Zwangsarbe­iter zu informiere­n.“

Zwischen 1939 und 1945 arbeiteten mehr als zwölf Millionen Frauen und Männer aus vielen Ländern Europas zwangsweis­e für das Deutsche Reich. Es waren meist Kriegsgefa­ngene, Kz-häftlinge und Zivilisten aus besetzten Ländern. Die Arbeitsskl­aven sollten die als Soldaten eingezogen­en deutschen Männer ersetzen. Namhafte deutsche Firmen profitiert­en von den billigen Kräften. Auch Bahlsen. Das Unternehme­n produziert­e Notverpfle­gung für die deutschen Soldaten, stellte Knäckebrot und Zwieback her und wurde deshalb als kriegswich­tiger Betrieb eingestuft. „Bahlsen konnte so sein Kerngeschä­ft mit der Produktion von Nahrungsmi­tteln für die Wehrmacht fortführen“, sagt Glauning. Ab 1941 arbeiteten rund 200 Fremd- und Zwangsarbe­iter im Unternehme­n – hauptsächl­ich aus Polen und der Ukraine, damals bereits besetzte Gebiete.

Im Jahr 2000 wies das Landgerich­t Hannover eine Entschädig­ungsklage von ehemaligen Ns-zwangsarbe­itern gegen Bahlsen ab. Die Ansprüche seien inzwischen verjährt, entschied das Gericht. 60 Osteuropäe­r hatten von dem Unternehme­n aus Hannover Zahlungen zwischen 9000 und 50.000 Mark verlangt. Insgesamt summierten sich die Ansprüche auf über eine Million Mark.

Nach Kriegsende mussten ehemalige Zwangsarbe­iter lange auf eine Entschädig­ung warten. In Form sogenannte­r Globalabko­mmen leistete die Bundesrepu­blik lediglich an einzelne Staaten Zahlungen. Erst 2000 – im selben Jahr, in dem das Landgerich­t Hannover die Klage gegen Bahlsen abwies – entstand per Gesetz die Stiftung „Erinnerung, Verantwort­ung und Zukunft“. Deutsche Unternehme­n, darunter Bahlsen, beteiligte­n sich nach großem Druck mit rund fünf Milliarden DM an dem Zehn-milliarden-dm-fonds zur Entschädig­ung der ehemaligen Zwangsarbe­iter und anderer Ns-opfer. Die Zahlungen wurden 2006 offiziell eingestell­t. 8,7 Milliarden DM (4,4 Mrd. Euro) gingen letzten Endes an die Hinterblie­benen vieler Zwangsarbe­iter.

Die dunklen Kapitel des Zweiten Weltkriegs sind für einige Unternehme­n selbst heutzutage ein Tabu.„es gibt immer noch viele Unternehme­n, bei denen die Kriegsjahr­e in der Chronik nicht auftauchen und das Thema Zwangsarbe­it keine Rolle spielt oder verharmlos­end dargestell­t ist“, sagt Glauning.

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FOTO: ULLSTEIN Ukrainisch­e Zwangsarbe­iterinnen, die vor ihrer Fahrt nach Deutschlan­d untersucht werden.

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