Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Falsch behandelt

Jahrelang hat Martha F. aus Hürth Spritzen gegen Hexenschus­s bekommen. Dann stellte sich heraus: Sie litt unter einer ganz anderen Krankheit. Jetzt klagt sie gegen ihren früheren Arzt. Doch solche Prozesse dauern oft lang und sind teuer.

- VON CLAUDIA HAUSER UND MERLE SIEVERS

HÜRTH Es gab Zeiten, da saß Martha F. mehrmals in derwoche imwartezim­mer ihres Orthopäden in Hürth bei Köln. Ihre Rückenschm­erzen ließen die Frau oft verzweifel­n. Die Behandlung lief dann immer gleich ab, wie sie sagt. Der Arzt spritzte ihr das Schmerzmit­tel Diclofenac und notierte „Hexenschus­s“. „Manchmal hab ich bis zu drei Spritzen bekommen, dazu Schmerztab­letten“, sagt die 80-Jährige. Dann sei es kurz gut gewesen, bis die Schmerzen wieder da waren.

Früher war die Rentnerin oft mit ihrem Rad unterwegs oder mit dem Bus. Doch die Schmerzen zwangen sie nach und nach immer mehr zum Stillhalte­n. „Hexenschus­s. So oft? Das kann doch eigentlich nicht sein“, habe sie zu ihrem Arzt gesagt. Die Diagnose fühlte sich für Martha F., die ihren vollen Namen nicht in der Zeitung lesen möchte, falsch an. „Ich erzählte ihm, dass meine Mutter unter Osteoporos­e litt, und fragte ihn, ob es nicht sein könnte, dass ich das auch habe“, sagt sie. „Sie haben, was Sie immer haben“, habe der Arzt gesagt, „Hexenschus­s.“

Osteoporos­e ist eine Alterserkr­ankung der Knochen, die auch als Knochensch­wund bezeichnet wird. Frauen leiden häufiger unter ihr als Männer, die Krankheit lässt die Knochen dünn und porös werden, sie werden anfällig für Brüche. Dass Martha F. tatsächlic­h Osteoporos­e hat, erfuhr sie im Sommer vor zwei Jahren in einer Klinik in Wiesbaden. Vorher hatten ihre Schmerzen sie regelrecht lahm gelegt. „Es war ein halbes Jahr lang unerträgli­ch“, sagt sie. „Ich lag nur auf dem Sofa, meine Beine angewinkel­t auf einem Stoffwürfe­l.“Drei Nachbarinn­en kümmerten sich um Martha F. „Sie haben für mich eingekauft, gekocht und geputzt. Alle zweiwochen kam meine Tochter, um meine Wäsche zu waschen. 100 Kilometer hin, 100 Kilometer zurück.“Sie hat drei Töchter, keine lebt in der Nähe. Zum Arzt konnte sie nur mit dem Taxi, eine Nachbarin fuhr sie zur Physiother­apeutin, die eigentlich nur fünf Minuten von Martha F.s Wohnung entfernt ist.

Martha F. ist wohl eine von 3337 Patientinn­en und Patienten, die laut einer Studie des Medizinisc­hen Dienstes der Krankenver­sicherung im Jahr 2017 durch den Behandlung­sfehler eines Arztes zu Schaden gekommen sind. Die Zahlen für vergangene­s Jahr werden am Donnerstag bekannt gegeben. Die Dunkelziff­er dürfte um nur grundsätzl­ich die Frage, ob ein Behandlung­sfehler vorliegt oder nicht. Über die Auswirkung­en oder die Höhe eines möglichen Schadenssa­tzes wird nicht geurteilt. Ein positives Mdk-gutachten kann als Grundlage für eine Klage oder eine außergeric­htliche Klärung mit dem Arzt oder Krankenhau­s dienen.

Der zweite Weg

kann eine Meldung an die Schlichtun­gsstelle der zuständige­n Landesärzt­ekammer sein. In NRW gibt es die Kammern Nordrhein und Westfalen-lippe. Auch sie erstellen Gutachten, die allerdings nicht rechtlich bindend sind. In jedem Fall ist ein Anwalt für Medizinrec­ht zu konsultier­en. Erstberatu­ngen sind oft kostenlos. ein Vielfaches höher liegen, da viele Patienten ihrer Befürchtun­g, Opfer geworden zu sein, gar nicht erst nachgehen – aus Scham, Angst oder Unwissenhe­it. Dr. Hansjörg Haack (60) ist Fachanwalt für Medizinrec­ht in Düsseldorf und betreut nach eigenen Angaben zwischen 300 und 400 Mandanten pro Jahr, Anfragen habe er dreimal so viele. Bei rund 90 Prozent seiner Fälle traten Probleme im Zusammenha­ng mit Krankenhau­saufenthal­ten auf. Dabei führt seiner Erfahrung nach selten Inkompeten­z der Ärzte zu Behandlung­sfehlern, sondern vielmehr die Überlastun­g des Klinikpers­onals. „Krankenhäu­ser stehen heute unter einem enormen wirtschaft­lichen Druck und haben oft massive Personalpr­obleme. Da kommt es dann zu Diagnosefe­hlern oder mangelnder Aufklärung eines Kranken beispielsw­eise vor einer Operation“, sagt Haack. Auch Kommunikat­ionsproble­me zwischen Arzt und Patient, weil einer von beiden schlecht oder wenig Deutsch spricht, seien in Krankenhäu­sern an der Tagesordnu­ng und führten schnell zu Missverstä­ndnissen. Haack weiß auch um die emotionale Belastung, unter der Patienten nach einem Behandlung­sfehler leiden.„zu mir kommen Menschen, die mit großen Hoffnungen zum Arzt oder ins Krankenhau­s gegangen sind, und bei denen hinterher alles noch schlimmer ist als vorher“, sagt Haack. Da sei die Enttäuschu­ng groß, nicht selten ziehe das Erlebte auch psychische Leiden nach sich.

Wenn ein Patient sich dazu durchringt, einen Behandlung­sfehler an offizielle­r Stelle zu beanstande­n, hat er einen langen Weg vor sich. Die Verfahren ziehen sich oft über mehrere Jahre und sind mit hohen Kosten verbunden. Gutachten, Anwalts- und Prozesskos­ten summieren sich schnell auf 6000 bis 7000 Euro. Sofern eine Rechtsschu­tzversiche­rung besteht, übernimmt diese die Ausgaben. Andernfall­s muss der Patient selbst in Vorleistun­g gehen und hoffen, dass der Streitwert des Prozesses am Ende seine Ausgaben zumindest deckt.

In einem Hefter hat Martha F. sämtliche Taxiquittu­ngen und Rechnungen für zusätzlich­e Medikament­e gesammelt, etwa Kalziumund­vitamin-d-tabletten, rund 870 Euro sind es. Für Martha F. ist das viel Geld, die Rente der ehemaligen Sekretärin ist nicht hoch. Einige Monate nach dem Klinikaufe­nthalt in Wiesbaden wurde Martha F. zwölf Tage in einer orthopädis­chen Spezialkli­nik in Bad Schwalbach behandelt, danach war sie seit langem einigermaß­en schmerzfre­i,„zumindest für zwei bis drei Wochen“, sagt sie.

Als sie ihrem Hürther Orthopäden 2017 von derwiesbad­ener Klinik mit dem hochspezia­lisierten Wirbelsäul­enzentrum erzählte, die sie gerne besuchen würde, habe dieser nur gesagt: „Ist ja schön.“Martha F. hat mit ihrem Rechtsanwa­lt inzwischen Klage wegen eines Diagnosefe­hlers gegen ihren Orthopäden eingereich­t. „Viele würden sicher sagen: Dagegen kommt man doch sowieso nicht an, aber ich will, dass er zur Rechenscha­ft gezogen wird“, sagt sie.

Derzeit leidet sie wieder unter Schmerzen. Sie glaubt, dass der Verlauf der Osteoporos­e deutlich hätte verzögert werden können, wenn die Krankheit rechtzeiti­g erkannt worden wäre und sie die passenden Medikament­e und eine gute Behandlung bekommen hätte.

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FOTO: ANNE ORTHEN Martha F. ist schmerzgep­lagt und möchte, dass ihr ehemaliger Arzt zur Rechenscha­ft gezogen wird.

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