Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Müdigkeit ist Rebellion

- VON PHILIPP HOLSTEIN

ANALYSE Die Kunst der Gegenwart ist bevölkert von tranigen Menschen zwischen Wachsein und Traum. Ihre Müdigkeit ist ein Akt des Widerstand­s: Sie verweigern sich dem allgemeine­n Effizienzg­ebot.

Das Buch ist ein Hit der Saison, und selten passierte in einem Weltbestse­ller so wenig wie in dem Roman„mein Jahr der Ruhe und Entspannun­g“. Die amerikanis­che Autorin Ottessa Moshfegh hat ihn geschriebe­n, und sie erzählt darin von einer erfolgreic­hen Frau, die viele beneiden: Sie ist 26 Jahre alt, attraktiv, sie hat ein kleines Vermögen geerbt und ihren Abschluss an einer Elite-uni gemacht. Sie wohnt im teuersten Viertel der Stadt und arbeitet in einer der tollsten Galerien des Landes. Sie ist drauf und dran, New York zu erobern. Doch: Das will sie gar nicht. Statt dessen sagt sie alles ab, lässt sich von einer Psychiater­in einen Medikament­en-cocktail verschreib­en und träumt auf dem Sofa herum. Zwölf Monate Nebel, ein Jahr lang Halbschlaf in der Metropole, die niemals schläft: „Nichts bereitete mir so viel Freude, schenkte mir so viel Freiheit und gab mir Macht.“

Figuren wie diese Frau begegnen einem auffallend oft in der aktuellen Kunstprodu­ktion. In den Performanc­es und Installati­onen von Anne Imhof, die für die Gestaltung des deutschen Pavillons auf der Biennale von Venedig 2017 den Goldenen Löwen bekam, liegen zumeist junge Menschen herum, andere stehen versonnen und tranig da. In dem Film „Der traumhafte Weg“der deutschen Regisseuri­n Angela Schanelec legen sich die Akteure unvermitte­lt auf den Boden und schließen die Augen. Radiohead-sänger Thom Yorke schwärmt im Interview mit dem „Crack“-magazin von der Wirkung des extremen Jetlags nach der Ankunft in Tokio – der Artikel trägt den Titel „Daydream Nation“.

Die Schriftste­llerin Marion Poschmann („Die Sonnenposi­tion“) beschreibt das Ich als „einen grauen Gegenstand, um den die Nebel glitten“. Und die 17 Jahre alte Sängerin Billie Eilish, die allerorten als Popstar der Stun

de gehandelt wird, fragt im Titel ihres gerade erschienen­en Albums, wohin wir eigentlich gehen, wenn wir einschlafe­n. Für das Plattencov­er hat sie sich auf eine Bettkante gesetzt, ihre Texte murmelt sie zumeist.

„Die Müdigkeit ist ein Signum unserer Zeit“, sagt Fabian Goppelsröd­er. Er ist Literaturw­issenschaf­tler und Philosoph, und er hat soeben die theoretisc­he Grundlage dieses Gegenwarts-phänomens vorgelegt. Seine „Aisthetik der Müdigkeit“erklärt die vor allem in der Kunst ausgelebte Sehnsucht nach dem Dämmerzust­and als Kritik am Zeitgeist. Sie sei Gegenprogr­amm, Bestandtei­l einer Alternativ­kultur, „ein bisschen wie das Hippietum“. Sie werte Dinge und Gewohnheit­en auf, die im Alltagsver­ständnis für das gelungene Leben abgewertet wurden. „Müdigkeit“, sagt der Literaturw­issenschaf­tler, „birgt so betrachtet ein rebellisch­es Potenzial“. Sie sei Ausdruck einer Verweigeru­ngshaltung. Das unentschie­dene Dazwischen, der Transitzus­tand des Hineinglei­tens in den Schlaf als Gegenbeweg­ung zu Effizienzg­ebot, Leistungsd­enken, beschleuni­gtem Arbeiten und Omnipräsen­z in den sozialen Medien.

Seit dem 19. Jahrhunder­t hat die Dauer des Nachtschla­fs um durchschni­ttlich zwei Stunden und seit den 1970er Jahren um weitere 30 Minuten abgenommen. Seit 2005 gab es bei den 18bis 25-Jährigen einen Anstieg an Depression­serkrankun­gen um 76 Prozent. Jeder sechste Studierend­e quält sich mit Phasen der Hoffnungsl­osigkeit, Resignatio­n und innerer Leere. Der frühere Philosophi­e-professor an der Berliner Akademie der Künste, Byung-chul Han, hat bereits vor einigen Jahren einen aufsehener­regenden Essay geschriebe­n, der allgemein als Zustandsbe­schreibung des Jetzt gelesen wurde: In „Müdigkeits­gesellscha­ft“analysiert er den Burn-out als Folge permanente­r Überreizun­g.

Die Kulturgesc­hichte des Schlafes ist lang, Novalis, Proust, Iwan Gontscha

Jeder sechste Studierend­e quält sich mit Phasen der Hoffnungsl­osigkeit, Resignatio­n und innerer Leere

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