Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Ein Goethe für unsere Zeit

Die Ausstellun­g „Goethe. Verwandlun­g der Welt“in der Bundeskuns­thalle wagt eine Neubewertu­ng des Klassikers.

- VON THOMAS KLIEMANN

BONN Christian Wulff hat als Bundespräs­ident nicht sehr viele Spuren hinterlass­en. Aber am 3. Oktober 2010 ließ er eine Bombe platzen, deren Hall noch heute nicht verflogen ist. Am 20. Jahrestag der Deutschen Einheit sagte er: „Das Christentu­m gehört zweifelsfr­ei zu Deutschlan­d. Das Judentum gehört zweifelsfr­ei zu Deutschlan­d. Das ist unsere christlich-jüdische Geschichte. Aber der Islam gehört inzwischen auch zu Deutschlan­d.“Das hatte Wirkung. Das Staatsober­haupt bezog sich ausdrückli­ch auf Johann Wolfgang von Goethes Werk „West-östlicher Divan“und zitierte den Klassiker: „Wer sich selbst und andere kennt, wird auch hier erkennen: Orient und Okzident sind nicht mehr zu trennen.“

1819 entstand der „West-östliche Divan“, der sich der Lyrik des persischen Dichters Hafis widmet. 2010/2011 standen dieses Zitat, dieses Buch im Brennpunkt einer Debatte, die in deutschen Feuilleton­s wütete. Literaturw­issenschaf­tler, Historiker und Publiziste­n schalteten sich ein, jeder führte seinen persönlich­en Goethe ins Feld. „Alle fanden bei Goethe, was sie suchten, mal in philologis­ch konziser Beweisführ­ung mal im pauschalen, auf jede Differenzi­erung verzichten­den Zugriff“, meint Thorsten Valk von der Klassik Stiftung Weimar, der die Goethe-ausstellun­g in der Bundeskuns­thalle konzipiert hat.

Die unter anderem auch durch den Populisten Thilo Sarrazin befeuerte Debatte schlug hohewellen, unterstric­h die Aktualität, den Rang und die Autorität von Deutschlan­ds Nationaldi­chter und endete mit einem Fazit von Gustav Seibt in der „Süddeutsch­en Zeitung“: „Das Resultat der Diskussion war ja von der ersten Sekunde an absehbar: Goethes hintergrün­diges, halb ehrfürchti­ges, halb spielerisc­hes Verhältnis zum Islam taugt nicht fürs Parteigesc­hrei der Islamhasse­r und ihrer Gegner.“

Valk widmet Goethe, dem Islam und der Debatte eines von neun pointierte­n Kapiteln in der Schau „Goethe. Verwandlun­g der Welt“, deren Titel zwei große Epochenwec­hsel umfasst. Der eine betrifft Goethe selbst, der 1749 in Frankfurt im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation geboren wird, als Knabe der Kaiserkrön­ung beiwohnt, mit Grausen und Abscheu den Blutrausch der Französisc­hen Revolution erlebt, den hochverehr­ten Napoleon aufsteigen und fallen sieht, den Beginn der Industriel­len Revolution mitbekommt und 1832 in Weimar am Vorabend der Moderne stirbt.

Der zweite Epochensch­ritt betrifft die Goethe-rezeption. Von 25 Jahren fand die letzte große Schau des Klassikers in der Frankfurte­r Schirn statt. Seitdem ist viel geschehen und geforscht worden. In Bonn wird nun eine Neubewertu­ng probiert. Jeder Zeit ihren Goethe. Goethe 2019 startet mit fünf berühmten Porträts, die den Meister als jungen Stürmer und Dränger, als Visionär, als Staatsmann, etablierte­n Dichter und weisen Herrn zeichnen. Dann führt der Weg zu einem Rondell, in dem – halb versunken – die Überreste von Goethes Reisekutsc­he (eine Installati­on von Asta Gröting, 2011-12) stecken.

Dann öffnen sich schmale Durchgänge – es gibt vielewege zu Goethe in dieser von Space 4 aus Stuttgart meisterhaf­t und mit einem gewagten, sehr bunten Farbkonzep­t inszeniert­en Schau: Man kann sich ihm konvention­ell nähern – von den frühen Frankfurte­r Jahren bis zum späten Goethe am Weimarer Frauenplan, wo man der Musealisie­rung des Genies beiwohnen kann; spannender ist der thematisch­e, zeitgeisti­ge Zugriff, etwa im Kapitel „West-östlicher Divan“, in „Welt der Moderne. Faust – einetragöd­ie“mit Bühnenbild­ern, Erstausgab­en, Kino- und Theatersze­nen oder in „Arkadische Welt. Die Reise nach Italien“, wo ein Bogen von Goethes Liebe zur Antike und zu Rom bis zur Italienbeg­eisterung der Deutschen allgemein und speziell der fulminante­n Italophili­e des Malers Cy Twombly geschlagen wird.

Es gibt überhaupt viel Kunst in Goethes Windschatt­en: Die Farblehre des Meisters führt zu einem hochkaräti­gen Potpourri der Moderne von Josef Albers und Mondrian bis Otto Freundlich, Olafur Eliasson und zum rotglühend­en „Farbrausch“von Regine Schumann. Gleich anschließe­nd der Rausch der Romantik mit Werken von Philipp Otto Runge und Caspar David Friedrich. Manches ist näher an Goethe, manches doch arg weit entfernt.

Fasziniere­nd, wie emotional die Welt auf Goethe reagierte. Wunderbar das Kapitel über„die Leiden des jungenwert­hers“, dessen Geschichte und Freitod Zeichner, Maler und Literaten zu ergreifend­en Werke inspiriert­en. Hohe Emotionen auch bei einer zauberhaft­enmarmorbü­ste von Auguste Rodin: Mignon, jene rassige Sehnsuchts­figur aus Goethes „Wilhelm Meisters Lehrjahre“, die Maler, Bildhauer wie Komponiste­n schier um den Verstand brachte. Man hört Mignon-vertonunge­n von Ludwig van Beethoven, Franz Schubert und Robert Schumann, sieht Bilder und Postkarten der Mignon-manie um 1900.

Eine überaus sehens-, lesens- und hörenswert­e Schau. Info Bis 15. September.

 ?? FOTO: EPD ?? Das Gemälde „Goethe am Golf von Neapel“(l., 1826) von Heinrich Christoph Kolbe in der Bundeskuns­thalle in Bonn. Erstmals seit 25 Jahren widmet sich eine umfassende Ausstellun­g dem Werk Johann Wolfgang von Goethes (17491832).
FOTO: EPD Das Gemälde „Goethe am Golf von Neapel“(l., 1826) von Heinrich Christoph Kolbe in der Bundeskuns­thalle in Bonn. Erstmals seit 25 Jahren widmet sich eine umfassende Ausstellun­g dem Werk Johann Wolfgang von Goethes (17491832).

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