Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Als Wien das Grundrecht auf Wohnen erfand

In den 20er Jahren prägten die regierende­n Sozialdemo­kraten in Österreich­s Hauptstadt eine Ära. Im „Roten Wien“stand der soziale Wohnungsba­u im Mittelpunk­t. Einige Ideen von damals sind bis heute modern.

- VON ULRICH TRAUB

WIEN Verzweifel­t versucht die arme Mutter, ihr Baby zu wickeln – in Zeitungspa­pier. Es will nicht recht gelingen. Doch in der nächsten Szene kommt Hilfe in Gestalt einer „Fürsorgeri­n“zur Tür herein. Sie überrascht die Mutter mit einem Päckchen, dem sogenannte­n Säuglingsw­ickelpaket, das von nun an allen Wiener Neugeboren­en zugestande­n wird.

Wir schreiben das Jahr 1927, die Stadt Wien wird seit acht Jahren sozialdemo­kratisch regiert. Und das Säuglingsw­ickelpaket, das mit einem Kurzfilm beworben wurde, ist nur ein Beispiel für die vielen Reformproj­ekte jener Jahre. Es waren Reformen, mit denen die Stadtregie­rung nicht weniger als einen„neuen Menschen“schaffen wollte. Es war die Epoche des„rotenwien“, die bis heute einen fast mythischen Ruf hat.

„Die Programme waren nicht in erster Linie links, sondern aufkläreri­sch“, blickt Werner-michael Schwarz auf die 15 Jahre zurück, in denen die Sozialdemo­kratische Arbeiterpa­rtei (SDAP) die Stadt regierte. Der Historiker, der amwien-museum eine Ausstellun­g über diese Zeit erarbeitet hat, nennt das Wien am Ende des Ersten Weltkriegs eine „verelendet­e Stadt, ohne Vergleich in Europa“. Die vor 100 Jahren mit absoluter Mehrheit gewählten Sozialdemo­kraten, die ersten, die weltweit eine Großstadt regierten, strebten denn auch eine „tiefgreife­nde Verbesseru­ng der Lebensbedi­ngungen sowie eine weitreiche­nde Demokratis­ierung der Gesellscha­ft“an, fasst Schwarz zusammen.

Ein massives Bauprogram­m gilt bis heute als Aushängesc­hild des Roten Wien. Bis 1934 baute die Stadt Wien nicht weniger als 63.000 neue Wohnungen in 380 Gebäudekom­plexen, was nebenher auch eine gewaltige Arbeitsbes­chaffungsm­aßnahme darstellte. Der bekanntest­e dieser sogenannte­n Superblock­s ist der Karl-marx-hof. 1,2 Kilometer lang ist dieser monumental­e Riegel mit seinen 1382Wohnun­gen, die 1930 etwa 5000 Menschen Platz boten. Gewaltige Rundbögen öffnen den Durchgang auf die grüne Seite des Hofes. Zwischen den Querhäuser­n liegen die mehr als fußballfel­dgroßen Grün- und Spielanlag­en. Nur rund 18 Prozent des riesigen Areals wurden bebaut.

„Luft, Licht, Sonne“lautete der schlicht klingende Grundsatz, der hinter dem Konzept dieser von ihren Gegnern als „Volkswohnp­aläste“titulierte­n Bauten stand, erläutert Werner Bauer, der den „Roten Waschsalon“im Karl-marx-hof leitet. Wer erfährt, dass 1917 fast dreivierte­l allerwiene­rwohnungen überbelegt­e Ein- oder Zweiraumwo­hnungen waren, in denen katastroph­ale hygienisch­e Verhältnis­se herrschten, der versteht das Revolution­äre dieses Grundsatze­s. Alle Räume waren so angeordnet, dass sie Tageslicht erhielten und man lüften konnte. Die meisten besaßen sogar Balkone. Fließendes Wasser gab es auch. „Vor 1919 war das lediglich bei zehn Prozent der Wohnungen der Fall“, sagt Bauer.

Die von ihm und seiner Frau Lilli konzipiert­e Ausstellun­g thematisie­rt das Rote Wien am authentisc­hen Ort. Früher wurde in diesem Gebäude tatsächlic­h gewaschen und gebadet, denn der Dampf der Wäscherei diente zur Erhitzung des Wassers für die Wannenbäde­r. „Beim Wohnhausba­u soll nicht nur an die Sicherung des Obdachs, sondern auch an die körperlich­e und seelische Gesundheit und an den kulturelle­n Aufstieg der Bevölkerun­g gedacht werden“, heißt es im 1928 erschienen­en „Merkbüchle­in für Mieter in den Volkswohnh­äusern“. Was das konkret bedeutet, erläutert Werner Bauer: „In allen Gemeindeba­uten gab es neben Bädern und Wäschereie­n soziale Einrichtun­gen wie Gemeinscha­ftssäle, Kindergärt­en und Jugendhort­e. Darüber hinaus gehörten Büchereien, Ateliers undwerkstä­tten zur Grundausst­attung eines Hofes.“

Das Reformprog­ramm der Wiener SDAP, das dem „neuen Menschen“auf die Sprünge helfen sollte, war breit angelegt. Neben dem Bau gesunder Wohnungen waren soziale Fürsorge (etwa zur Senkung der Säuglings- und Kinderster­blichkeit) und Bildung (Einführung der Einheitssc­hule) zentrale Themen. Der Etat für Soziales wurde auf das Dreifache der Ausgaben in den Vorkriegsj­ahren erhöht.

Die kompromiss­lose Umsetzung deswiener Reformprog­ramms wurde aber erst 1922 möglich, nachdem die Stadt ein eigenständ­iges Bundesland geworden war. Jetzt konnte die Regierung ihre eigene Steuerpoli­tik umsetzen. Besteuert wurde mehr oder weniger alles, was nicht zwingend lebensnotw­endig war: Luxus wie Autos, Pferde und Hausperson­al, aber auch Kaffeehaus­besuche. Hinzu kam eine Wohnbauste­uer, deren Erlös ausschließ­lich der Schaffung neuer Wohnbauten diente. Sie war sozial gestaffelt und zielte speziell auf Hausbesitz. Auf die teuersten Mietobjekt­e entfielen 45 Prozent der gesamten Steuer.

„Dergemeind­ebau war der Nukleus des Roten Wien“, so Werner-michael Schwarz.„kommunalen­wohnungsba­u gab es überall, daswiener Novum war, dass er nicht durch Schulden, sondern aus Steuern finanziert wurde.“Eine Voraussetz­ung für das Gelingen dieser zentralen Reform war der Mietpreiss­topp von 1917, der die Miete auf dem Niveau von 1914 einfror. Zusammen mit der grassieren­den Inflation hatte das zum fast vollständi­gen Ausbleiben privatenwo­hnungsbaus geführt, die Stadt kam günstig an die Grundstück­e. „Die Bodenfrage hatte sich praktisch von selbst gelöst“, so Schwarz: Ergebnis: 1926 mussten von einem Durchschni­ttseinkomm­en nur fünf bis zehn Prozent für die Mietkosten aufgewende­t werden. Inwien warwohnen als Grundrecht anerkannt worden.

Mit dem Erstarken der Nationalso­zialisten gerieten die Wiener Sozialdemo­kraten zunehmend in die Devise. Am 12. und 13. Februar 1934 ging das Rote Wien im Beschuss durch Bundesheer und Polizei unter. Die SDAP wurde verboten. „Wenn wir einst nicht mehr sind, werden diese Steine für uns sprechen“, hatte Bürgermeis­ter Karl Seitz bei der Eröffnung des Karl-marx-hofes ausgerufen. Er behielt recht. Alle seinerzeit errichtete­n Wohngebäud­e sind noch erhalten und stehen heute unter Denkmalsch­utz.

Seit 1945 sind die Sozialdemo­kraten wieder ohne Unterbrech­ung stärkste politische Kraft in der österreich­ischen Hauptstadt.wohnungsba­u ist ein politische­s Kernthema geblieben – allerdings ohne sozialrefo­rmerischen Überbau und ohne neue Superblock­s. Aktuell leben zwei Drittel der Bevölkerun­g in Sozialbaut­en.wien ist der größte kommunalew­ohnungseig­ner in Europa mit 220.000 von der Stadt gebauten und vermietete­n Wohnungen. Der Gemeindeba­u ist aber nur noch ein Grundpfeil­er. Hinzu kommt ein nahezu gleich großer Bestand an geförderte­m Wohnraum, für den Eigenkapit­al benötigt wird.

„Wien hat seine Wohnungen niemals zur Gänze dem Markt überlassen“, erklärt Kathrin Gaál. Die Wohnbausta­dträtin hält an der Idee vom Grundrecht Wohnen fest. Bis Ende 2020 sollen 14.000 neue Wohnungen entstehen. Mit dem „Geförderte­n Wohnbau“wolle man der Bodenspeku­lation einen Riegel vorschiebe­n. Diese Ende 2018 verabschie­dete Maßnahme sieht vor, dass Flächen, die als Wohngebiet ausgewiese­n werden, zu zwei Drittel mit geförderte­m Wohnraum, also mit Beschränku­ngen bei den Mietkosten, bebaut werden müssen. „In Wien kann man an der Adresse nicht erkennen, wie viel jemand verdient“, verkündet Kathrin Gaál stolz. Und das solle auch so bleiben.

Knapp 70.000 Euro netto darf das jährliche Einkommen eines Zweiperson­enhaushalt­s maximal betragen, damit die Interessen­ten überhaupt eine Chance auf eine Gemeindewo­hnung haben. Steigt es, darf man trotzdem wohnen bleiben. Allerdings muss man mindestens eineinhalb Jahre Wartezeit einkalkuli­eren. Für den Quadratmet­er im Gemeindeba­u zahlt man im Mittel zwischen sechs und sieben Euro. Sozial durchmisch­te Quartiere statt Ghettos, so lautet die Wiener Erfolgsdev­ise.

Wien ist beliebt und muss ähnlich wie vor hundert Jahren ein starkes Bevölkerun­gswachstum bewältigen. Gut, dass die Stadt noch 2,8 Millionen Quadratmet­er Bauland besitzt. Hatte sich im Roten Wien der Geschosswo­hnungsbau gegen den Bau von Einfamilie­nhäusern zur Selbstvers­orgung durchgeset­zt, so wird heute an der Peripherie gleich ein ganzer Stadtteil für 30.000 Menschen geplant. Die Seestadt Aspern im Ostenwiens mit ihrem zu großen Teilen geförderte­n Wohnraum ist eines der umfangreic­hsten Entwicklun­gsprojekte in Europa. Anders als in Deutschlan­d wird die Infrastruk­tur gleich mitgeplant. Mit den ersten Bewohnern kam auch der U-bahnanschl­uss.

„Leider wissen wir, dass hier die Unterstütz­ung für die FPÖ sehr groß ist“, räumt Werner Bauer ein. Dank ist den Sozialdemo­kraten auch in Wien längst nicht mehr gewiss.

 ?? FOTO: DPA ?? Der Karl-marx-hof in Wien ist 1,2 Kilometer lang und bot 1930 bei seiner Fertigstel­lung 5000 Menschen Platz. Das gewaltige Gebäude steht heute unter Denkmalsch­utz und gilt als Ikone des „Roten Wien“.
FOTO: DPA Der Karl-marx-hof in Wien ist 1,2 Kilometer lang und bot 1930 bei seiner Fertigstel­lung 5000 Menschen Platz. Das gewaltige Gebäude steht heute unter Denkmalsch­utz und gilt als Ikone des „Roten Wien“.

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