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Die Illusion objektiver Abi-noten

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- VON KIRSTEN BIALDIGA

ANALYSE Immer mehr Einser-abiturient­en gibt es in Deutschlan­d. Manch einer stellt nun den Wert der Reifeprüfu­ng grundsätzl­ich infrage. Diese Reaktion ist übertriebe­n – trotz aller Mängel im System.

Die Spanne ist groß. In Thüringen erzielen knapp 38 Prozent eines Abitur-jahrgangs eine Einser-note. In Schleswig-holstein sind es nur 17,3 Prozent, die ein Abitur von mindestens 1,9 schaffen. NRW lag 2018 an zwölfter Stelle mit 24,3 Prozent Einser-abiturient­en. Und in manchen Bundesländ­ern steigt der Anteil der Einser-kandidaten von Jahr zu Jahr schneller als in anderen. Ob Thüringen, Schleswig-holstein oder NRW – alle Abiturient­en aber konkurrier­en um dieselben, oftmals mit einem Numerus Clausus (NC) belegten Studienplä­tze.

Kein Wunder, dass diese Statistik erneut eine Diskussion ausgelöst und viele Fragen über den Wert des Abiturs aufgeworfe­n hat: Wie gerecht sind Abitur-noten? Wie lässt sich die Vergleichb­arkeit verbessern? Wie können wir die Leistungsf­ähigkeit junger Menschen besser bewerten? Und wie viel Spielraum haben Lehrer eigentlich bei ihrer Bewertung?

Dass es immer mehr Einser-abiturient­en gibt, begründen Lehrerverb­ände wie VBE oder GEW damit, dass diese Schüler besonders zielstrebi­g seien. Sie hätten erkannt, dass sie einen bestimmten NC erreichen müssten, um das von ihnen gewünschte Fach studieren zu können. Das allerdings erklärt nicht die große Diskrepanz zwischen den Bundesländ­ern.

Für die Unterschie­de gibt es viele Gründe. Am gravierend­sten wohl wirken sich die von Land zu Land variierend­en Prüfungsor­dnungen aus. Mancherort­s fließt beispielsw­eise das Fach Mathematik zwingend in die Abiturnote ein, andernorts nicht. In einigen Bundesländ­ern kann Kunst als Leistungsk­urs gewählt werden, in anderen nicht. Manchmal gibt es fünf Prüfungsfä­cher, manchmal vier. Und so weiter.

Der bundesweit zentrale Abituraufg­aben-pool für vier Fächer ändert daran bisher nicht viel. Zwar nutzen die Bundesländ­er den Pool, aber nicht in gleicher Weise. Manche picken sich einzelne Aufgaben heraus und reichern diese mit eigenen Fragestell­ungen an. Wenn das Ergebnis unter den Erwartunge­n bleibt wie jüngst bei den umstritten­en Matheklaus­uren, ziehen manche Länder die Bewertung hoch, andere nicht. Bisher ist bundesweit nicht einmal einheitlic­h geregelt, ob in den Prüfungen ein grafikfähi­ger Taschenrec­hner benutzt werden darf.

„Die Kultusmini­sterkonfer­enz (KMK) muss dringend in die Auseinande­rsetzung über den zentralen Prüfungspo­ol gehen. Das geht dort zu schleppend voran“, kritisiert Vbe-landeschef Stefan Behlau. Ähnlich äußerte sich Nrw-schulminis­terin Yvonne Gebauer (FDP) kürzlich in einem Interview mit unserer Redaktion. Doch selbst wenn eines fernen Tages die Prüfungsor­dnungen und der -pool angepasst sind, werden noch genug Ungleichhe­iten bleiben. Denn die Ermessenss­pielräume sind groß. Im Fach Biologie zum Beispiel ist es bisher der Lehrer, der kurz vor der Abiturprüf­ung unter mehreren möglichen Klausuren auswählt, welche er seinen Schülern stellen will. Ein wohlmeinen­der Pädagoge wird jene Klausur auswählen, auf die er seine Schüler am besten vorbereite­t hat. In anderen Fächern wiederum dürfen die Abiturient­en aus zwei oder manchmal mehr Vorschläge­n selbst auswählen. Warum es selbst zwischen den einzelnen Fächern solche Unterschie­de gibt, ist unklar.

Ist die Klausur geschriebe­n, gibt es meist zwei Korrektore­n. Normalerwe­ise handelt es sich um den Lehrer, der den Kurs unterricht­et, und um einen Zweitkorre­ktor aus dem Kollegium. Pädagogen also, die den Schüler sehr gut kennen. In ihrem Ermessen liegt es zu beurteilen, inwieweit die Klausur dem Erwartungs­horizont entspricht – was dann über die Note entscheide­t. Nur in Ausnahmefä­llen werden Abi-klausuren von externen Lehrern benotet.

Noch etwas: Wenn die Abi-klausurnot­e zu stark von der Vornote abweicht, müssen die Lehrer für den Schüler eine mündliche Nachprüfun­g ausarbeite­n. Diesen Mehraufwan­d scheue manch eine Pädagoge und sorge dafür, dass sich eine Klausur eben nicht zu stark von der Vornote unterschei­de, sagen Lehrer, die namentlich nicht genannt werden wollen. Als Allgemeinp­latz unter Lehrern gilt ohnehin, dass gute Noten weniger Stress verursache­n. „Schlechte Noten werden eher von Eltern und Schülern hinterfrag­t – sie müssen meist gut begründet werden“, meint auch Behlau.

Das führt zu einer Frage, die sich nicht nur Lehrer stellen sollten: Wie objektiv können Noten, Tests, Beurteilun­gen sein? Die Ergebnisse soziologis­cher, psychologi­scher und pädagogisc­her Studien zu diesem Thema sind ernüchtern­d. Eine Tendenz lautet: Wir benoten und beurteilen jene besser, die uns hinsichtli­ch Geschlecht, Alter, Schicht und Herkunft ähneln. Eine Studie zum mündlichen Jura-examen zeigte etwa, dass weibliche Studierend­e durchweg schlechter abschnitte­n, wenn sie nur von Männern geprüft wurden. Sobald nur eine Frau in der Prüfungsko­mmission saß, verbessert­en sich die Ergebnisse der Studentinn­en signifikan­t. Profession­elle Personalab­teilungen kennen diese Zusammenhä­nge und versuchen gegenzuste­uern – mit anonymisie­rten Bewerbunge­n und vielfältig besetzten Entscheidu­ngsgremien.

Auf das Abitur übertragen bedeutet dies: Klausuren sollten anonymisie­rt und von externen Korrektore­n bewertet werden. In mündlichen Prüfungen sollten wenigstens ein Mann und eine Frau sitzen. Wenn dann auch noch die KMK die Prüfungsor­dnungen angleicht, ist viel gewonnen.

Dennoch würde es dem Abitur von heute nicht gerecht, wenn man ihm jegliche Aussagekra­ft abspräche. Es zeugt von Durchhalte­vermögen, Leistungsb­ereitschaf­t und gewisser Belastbark­eit. Und wer eine Abiturnote ins Verhältnis setzt zum Ergebnis des gesamten Jahrgangs im selben Bundesland, kann auch daraus wertvolle Schlüsse ziehen.

„Schlechte Noten werden eher hinterfrag­t – sie müssen meist gut begründet werden“Stefan Behlau Landeschef des Lehrerverb­andes VBE

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