Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
Die Illusion objektiver Abi-noten
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ANALYSE Immer mehr Einser-abiturienten gibt es in Deutschland. Manch einer stellt nun den Wert der Reifeprüfung grundsätzlich infrage. Diese Reaktion ist übertrieben – trotz aller Mängel im System.
Die Spanne ist groß. In Thüringen erzielen knapp 38 Prozent eines Abitur-jahrgangs eine Einser-note. In Schleswig-holstein sind es nur 17,3 Prozent, die ein Abitur von mindestens 1,9 schaffen. NRW lag 2018 an zwölfter Stelle mit 24,3 Prozent Einser-abiturienten. Und in manchen Bundesländern steigt der Anteil der Einser-kandidaten von Jahr zu Jahr schneller als in anderen. Ob Thüringen, Schleswig-holstein oder NRW – alle Abiturienten aber konkurrieren um dieselben, oftmals mit einem Numerus Clausus (NC) belegten Studienplätze.
Kein Wunder, dass diese Statistik erneut eine Diskussion ausgelöst und viele Fragen über den Wert des Abiturs aufgeworfen hat: Wie gerecht sind Abitur-noten? Wie lässt sich die Vergleichbarkeit verbessern? Wie können wir die Leistungsfähigkeit junger Menschen besser bewerten? Und wie viel Spielraum haben Lehrer eigentlich bei ihrer Bewertung?
Dass es immer mehr Einser-abiturienten gibt, begründen Lehrerverbände wie VBE oder GEW damit, dass diese Schüler besonders zielstrebig seien. Sie hätten erkannt, dass sie einen bestimmten NC erreichen müssten, um das von ihnen gewünschte Fach studieren zu können. Das allerdings erklärt nicht die große Diskrepanz zwischen den Bundesländern.
Für die Unterschiede gibt es viele Gründe. Am gravierendsten wohl wirken sich die von Land zu Land variierenden Prüfungsordnungen aus. Mancherorts fließt beispielsweise das Fach Mathematik zwingend in die Abiturnote ein, andernorts nicht. In einigen Bundesländern kann Kunst als Leistungskurs gewählt werden, in anderen nicht. Manchmal gibt es fünf Prüfungsfächer, manchmal vier. Und so weiter.
Der bundesweit zentrale Abituraufgaben-pool für vier Fächer ändert daran bisher nicht viel. Zwar nutzen die Bundesländer den Pool, aber nicht in gleicher Weise. Manche picken sich einzelne Aufgaben heraus und reichern diese mit eigenen Fragestellungen an. Wenn das Ergebnis unter den Erwartungen bleibt wie jüngst bei den umstrittenen Matheklausuren, ziehen manche Länder die Bewertung hoch, andere nicht. Bisher ist bundesweit nicht einmal einheitlich geregelt, ob in den Prüfungen ein grafikfähiger Taschenrechner benutzt werden darf.
„Die Kultusministerkonferenz (KMK) muss dringend in die Auseinandersetzung über den zentralen Prüfungspool gehen. Das geht dort zu schleppend voran“, kritisiert Vbe-landeschef Stefan Behlau. Ähnlich äußerte sich Nrw-schulministerin Yvonne Gebauer (FDP) kürzlich in einem Interview mit unserer Redaktion. Doch selbst wenn eines fernen Tages die Prüfungsordnungen und der -pool angepasst sind, werden noch genug Ungleichheiten bleiben. Denn die Ermessensspielräume sind groß. Im Fach Biologie zum Beispiel ist es bisher der Lehrer, der kurz vor der Abiturprüfung unter mehreren möglichen Klausuren auswählt, welche er seinen Schülern stellen will. Ein wohlmeinender Pädagoge wird jene Klausur auswählen, auf die er seine Schüler am besten vorbereitet hat. In anderen Fächern wiederum dürfen die Abiturienten aus zwei oder manchmal mehr Vorschlägen selbst auswählen. Warum es selbst zwischen den einzelnen Fächern solche Unterschiede gibt, ist unklar.
Ist die Klausur geschrieben, gibt es meist zwei Korrektoren. Normalerweise handelt es sich um den Lehrer, der den Kurs unterrichtet, und um einen Zweitkorrektor aus dem Kollegium. Pädagogen also, die den Schüler sehr gut kennen. In ihrem Ermessen liegt es zu beurteilen, inwieweit die Klausur dem Erwartungshorizont entspricht – was dann über die Note entscheidet. Nur in Ausnahmefällen werden Abi-klausuren von externen Lehrern benotet.
Noch etwas: Wenn die Abi-klausurnote zu stark von der Vornote abweicht, müssen die Lehrer für den Schüler eine mündliche Nachprüfung ausarbeiten. Diesen Mehraufwand scheue manch eine Pädagoge und sorge dafür, dass sich eine Klausur eben nicht zu stark von der Vornote unterscheide, sagen Lehrer, die namentlich nicht genannt werden wollen. Als Allgemeinplatz unter Lehrern gilt ohnehin, dass gute Noten weniger Stress verursachen. „Schlechte Noten werden eher von Eltern und Schülern hinterfragt – sie müssen meist gut begründet werden“, meint auch Behlau.
Das führt zu einer Frage, die sich nicht nur Lehrer stellen sollten: Wie objektiv können Noten, Tests, Beurteilungen sein? Die Ergebnisse soziologischer, psychologischer und pädagogischer Studien zu diesem Thema sind ernüchternd. Eine Tendenz lautet: Wir benoten und beurteilen jene besser, die uns hinsichtlich Geschlecht, Alter, Schicht und Herkunft ähneln. Eine Studie zum mündlichen Jura-examen zeigte etwa, dass weibliche Studierende durchweg schlechter abschnitten, wenn sie nur von Männern geprüft wurden. Sobald nur eine Frau in der Prüfungskommission saß, verbesserten sich die Ergebnisse der Studentinnen signifikant. Professionelle Personalabteilungen kennen diese Zusammenhänge und versuchen gegenzusteuern – mit anonymisierten Bewerbungen und vielfältig besetzten Entscheidungsgremien.
Auf das Abitur übertragen bedeutet dies: Klausuren sollten anonymisiert und von externen Korrektoren bewertet werden. In mündlichen Prüfungen sollten wenigstens ein Mann und eine Frau sitzen. Wenn dann auch noch die KMK die Prüfungsordnungen angleicht, ist viel gewonnen.
Dennoch würde es dem Abitur von heute nicht gerecht, wenn man ihm jegliche Aussagekraft abspräche. Es zeugt von Durchhaltevermögen, Leistungsbereitschaft und gewisser Belastbarkeit. Und wer eine Abiturnote ins Verhältnis setzt zum Ergebnis des gesamten Jahrgangs im selben Bundesland, kann auch daraus wertvolle Schlüsse ziehen.
„Schlechte Noten werden eher hinterfragt – sie müssen meist gut begründet werden“Stefan Behlau Landeschef des Lehrerverbandes VBE