Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
Nullprozentiges
Mit dem Wonderleaf haben zwei Bonner Freunde ein Getränk auf den Markt gebracht, das wie Gin schmeckt, aber keiner ist. Der Erfolg hat sie selbst überrascht.
Es war eine Schnapsidee, oder besser: eine Anti-schnapsidee. Am 1. April 2016 überraschten Raphael Vollmar und Gerald Koenen, Geschäftsführer der Rheinland Distillers in Bonn, ihre Gefolgschaft auf Facebook mit einem kleinen Scherz. Zusätzlich zum erfolgreichen Siegfried Rheinland Dry Gin plane man eine alkoholfreie Alternative, verkündete das Duo. Prompt hagelte es Anfragen ohne Ende. „Ich habe damals schon gesagt, dass wir das machen müssen“, erzählt Vollmar, „aber der finale Trigger war nicht da.“Der kam erst zweieinhalb Jahre später, als seine schwangere Frau gerne einen Gin Tonic getrunken hätte, aber nicht durfte. Vollmar und Koenen kreierten den alkoholfreien Ersatz namens Wonderleaf – und verkaufen heute, ein Jahr nach der Premiere, mehr Flaschen davon als von ihrem echten Gin. „Das Ding ist eingeschlagen wie eine Bombe“, sagt Vollmar.
Tatsächlich boomen alkoholfreie Spirituosen, die allerdings nicht als Spirituosen bezeichnet werden dürfen. Erst ab einem Alkoholgehalt von mindestens 15 Prozent, so eine Eu-verordnung, darf der Begriff verwendet werden. Entsprechend geschützt sind damit auch Bezeichnungen wie Whiskey, Gin oder Rum. Am Erfolg alkoholfreier Alternativen ändert das nichts. In Großbritannien hat der Seedlip, ein Destillat aus Piment, Kardamom, Grapefruit, Zitronenschale, Eiche und Kaskarilla-rinde, viele Gin-trinker überzeugt. Der Whissin, eine Mischung aus Mais- und Gerstenmalz-maische, funktioniert seit Jahren als Whisky-ersatz. Auch Alternativen zu Rum oder Wodka finden sich auf dem Markt.
Zudem hat sich in den USA die „sober curious“-bewegung entwickelt, ausgehend vom gleichnamigen Buch der britischen Autorin Ruby Warrington. „Sober curious“heißt so viel wie nüchtern und neugierig und passt laut der Erfinderin perfekt zum aktuellen Trend, sich bewusst und gesund zu ernähren. Es sei doch absurd, tagsüber Yoga zu machen und Salat zu essen und abends an der Bar seine Leber mit Alkohol zu vergiften, schreibt Warrington: Sober Curious sei damit der nächste logische Schritt der Wellness-revolution.
„Mehr im Trend liegen kann man nicht“, sagt auch Vollmar. In New York hat mit der „Listen Bar“bereits ein Lokal eröffnet, das auf Spirituosen verzichtet, in Berlin gibt es die Partyreihe „Sober Sensations“, bei der zu alkoholfreien Cocktails, Mocktails genannt, getanzt wird. Diese Zielgruppe peilen auch die Rheinland Distillers an: Menschen, die keinen Alkohol trinken wollen oder dürfen und dabei bisher bei Limonaden, Wasser oder Fruchtsäften landeten. Denen habe man eine neue Geschmackswelt bieten wollen, sagt Vollmar. Etwas Gin-ähnliches. „Wir sehen uns gar nicht in Konkurrenz zu anderen Gins“, betont er. Vielmehr handele es sich bei dem Wonderleaf um eine Zutat oder eine Basis, aus der sich ein Erfrischungsgetränk mixen lasse, etwa mit Tonic.
Aber natürlich peilen die Bonner als Zielgruppe den klassischen Gin-genießer an. Zumal sie mit ihrem vielfach ausgezeichneten Dry Gin schon ein bekanntes Produkt vertreiben. Mit derselben Expertise sind sie auch an das alkoholfreie Pendant herangegangen. „Dabei haben wir nicht versucht, den alkoholischen Geschmack zu imitieren, das geht gar nicht“, sagt Vollmar. Vielmehr wollten sie ein Profil kreieren, das an Gin erinnert, und verwendeten dafür dieselben 18 Botanicals, die auch im Siegfried Rheinland Dry Gin stecken – teils mit Wasserdampf destilliert, teils mit Alkohol. Der Wonderleaf (der für 18,90 Euro pro 0,5-Liter-flasche verkauft wird) weist so am Ende einen Alkoholgehalt von 0,24 Prozent aus (unverdünnt) und darf damit als alkoholfrei bezeichnet werden. „Eine reife Banane etwa enthält 0,6 Prozent Raphael Vollmar Rheinland Distillers Alkohol“, sagt Vollmar.
Genug erzählt. Nun geht es an die Geschmacksprobe. Zunächst heißt es mal schnuppern. Tatsächlich riecht der Wonderleaf pur intensiv nach Gewürzen, unter anderem nach Wacholder, Muskat und Zimt. Verblüffend Gin-ähnlich ist diese Geruchswolke. An diesem Eindruck ändert sich nach dem ersten Schluck Gin Tonic nichts – in einem Mischungsverhältnis von 40 ml Wonderleaf und 140 ml Dry Tonic Water. Bei einer Blindverkostung könnte der Cocktail mit dem Bonner Destillat wohl selbst Gin-trinker in die Irre führen. Erst beim zweiten oder dritten Schluck fehlt irgendetwas, andererseits erweist sich das Gewürzaroma, vor allem die Zimtnote, als etwas zu dominant. Auch ein Wonderleaf Tonic ist damit ein Getränk, das langsam genossen werden will, ganz wie das alkoholhaltige Vorbild. Und damit keine Limonade mit Gin-aroma. Fazit: Der Wonderleaf ist eine überzeugende Alternative.
Weil das offensichtlich viele Menschen so sehen, setzten Vollmar und Koenen allein im Juli rund 25.000 Flaschen Wonderleaf ab – mehr als vom großen Bruder Siegfried Gin. Tendenz steigend, sagt Volmar. Mittlerweile sind die Rheinland Distillers der umsatzstärkste deutsche Gin-hersteller ohne industrielle Beteiligung. Und damit das so bleibt, planen die beiden Freunde neue Produkte. Nicht unbedingt alkoholfreie. Vollmar: „Vielleicht tummeln wir uns mal in der Welt des Niedrigalkohols.“
„Wir haben nicht versucht, den alkoholischen Geschmack zu imitieren, das geht gar nicht“
Rezept Asian Cherry: 5cl Wonderleaf, 5cl Cherry Blossom Tonic (von Thomas Henry), 5cl Jasmin Tee (kalt) Jasmintee auf Vorrat aufbrühen und abkühlen lassen. Würfeleis in ein Ballonglass geben, Wonderleaf und Tee hinzufügen. Anschließend mit Tonic toppen. Deko (optional): Getrocknete, essbare Blüten