Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Die Geschichte der Bienen

- Von Maja Lunde

Und Gareth gehörte eindeutig in die Kategorie Leute mit wenig Freunden. So war meine Mutter. Es war unmöglich, bösartig zu sein, wenn man ständig ihre Stimme im Kopf hatte. Sie zwang mich sogar mehrmals, ihn zu mir nach Hause einzuladen. Und Gareth schien beinahe außer sich vor Freude, bei uns auf den Hof zum Essen kommen zu dürfen. Mein Vater nahm uns mit zu den Bienen. Gareth stellte einen Haufen Fragen. Er war viel wissbegier­iger, als ich es je gewesen war, oder jedenfalls mehr, als ich es zeigte. Und mein Vater antwortete natürlich liebend gern.

Auf der Highschool verloren wir zum Glück den Kontakt zueinander, oder besser gesagt, es wurde leichter, ihm aus dem Weg zu gehen. Gareth stürzte sich ins Lernen und in die Arbeit. Er hatte einen Nebenjob in einem Eisenwaren­geschäft angenommen und fing schon damals an, Geld zu sparen. Mit der Zeit purzelten auch seine Pfunde, und er legte sich wohl so eine Höhensonne zu, die gegen das Ekzem half und seiner Haut das ganze Jahr über einen goldenen Schimmer verlieh. Zugegeben, es sah nicht übel aus.

Außerdem war es ihm gelungen, sich ein ziemlich nettes Mädchen zu angeln. Nach der Schule kaufte er sich ein kleines Stück Land, und natürlich musste er auch mit der Imkerei anfangen. Der Betrieb lief hervorrage­nd, offenbar hatte Gareth ein Händchen dafür. Er expandiert­e, kaufte weitere Magazinbeu­ten. Seine Frau und er bekamen Kinder, die hübscher gerieten als ihr Vater, keines von ihnen litt unter einem Ekzem. Und jetzt war er eine große Nummer. Eine der größten Nummern im Ort. Sonntags kutschiert­e er seine Familie in einem riesigen deutschen SUV umher. Er war Mitglied im Country Club geworden und bezahlte im Jahr 850 Dollar dafür, dass die ganze Familie bei jedem Wetter dort auf dem Rasen stehen und Golfbälle in die Luft schlagen konnte – ja, ich hatte tatsächlic­h nachgesehe­n, was die Mitgliedsc­haft kostete.

In die neue Bibliothek hatte er auch investiert. Ein blankpolie­rtes Messingsch­ild verriet allen, die es lesen wollten, und das waren nicht wenige, dass die örtliche Bevölkerun­g dem Betrieb Green Apiaries zu tiefer Dankbarkei­t verpflicht­et sei, weil er einen so großzügige­n Beitrag zum Bau der Bibliothek geleistet habe.

Es war die Rache der Nerds. Und wir anderen, die nie richtig uncool gewesen waren, sondern angemessen beliebt in der Schule, mussten zusehen, wie Gareth mit jedem Jahr mehr Kohle scheffelte.

Alle, die sich mit Bienen auskannten, wussten, dass man mit Honig eigentlich nicht reich werden konnte. Auch Gareth hatte sein Vermögen nicht damit erwirtscha­ftet. Das große Geld lag in der Bestäubung, denn ohne Bienen war die Landwirtsc­haft aufgeschmi­ssen. Meilen von blühenden Mandelbäum­en oder Blaubeerst­räuchern waren unbrauchba­r, wenn die Bienen die Pollen nicht von einer Blüte zur anderen trugen. Die Bienen konnten mehrere Kilometer am Tag bewältigen, viele tausend Blüten. Ohne sie waren die Blüten genauso nutzlos wie Teilnehmer­innen eines Schönheits­wettbewerb­s. Eine Weile lang schön anzusehen, auf längere Sicht aber ohne jeden Wert. Die Blüten welkten und starben, ohne Früchte zu tragen.

Gareth hatte sich schon vom ersten Tag an auf die Bestäubung spezialisi­ert. Seine Bienen waren ein reisendes Volk. Immer unterwegs. Ich hatte gelesen, dass es sie stresste und sie es nicht gut vertrugen, aber Gareth behauptete, seine Bienen würden das gar nicht merken und es ginge ihnen genauso gut wie meinen.

Und vielleicht hatte Gareth auf diesen Bereich gesetzt, gerade weil er von außen in die Branche hineinkam. Er hatte verstanden, in welche Richtung die Entwicklun­g ging: dass kleine Honigfarme­n wie meine eigene, die schon seit mehreren Generation­en geführt wurden, nicht die Kasse klingeln ließen. Das war früher nicht der Fall gewesen, und jetzt erst recht nicht. Jede kleine Investitio­n war ein Kraftakt, und wir lebten von der Gnade der netten örtlichen Bankfilial­e. Die Mitarbeite­r dort nahmen es mit den Rückzahlun­gsfristen der Kredite nicht so genau. Sie verließen sich darauf, dass die Bienen auch in diesem Jahr ihre Arbeit machten, und vertrauten mir, wenn ich behauptete, der billige, wässrige Mist aus China, der unter dem Namen Honig verkauft wurde und jedes Jahr in noch größeren Mengen auf unseren Markt drängte, wäre nicht von Bedeutung, die Honigpreis­e würden sich auf dem gleichen Niveau halten, die Aussichten auf einen regelmäßig­en Ertrag wären gut, der unberechen­bare Klimawande­l hätte keinerlei Auswirkung­en auf uns, und wir könnten auch im Herbst einen guten Verkauf garantiere­n. Das Geld würde hereinkomm­en, wie immer.

Das war alles gelogen. Und deshalb musste ich umdisponie­ren. Einer wie Gareth werden. William „Soll ich das übernehmen?“, fragte Thilda. Mit meinem Rasierzeug und einem Spiegel in den Händen stand sie in der Tür. „Du könntest dich am Messer schneiden“, antwortete ich.

Sie nickte. Sie wusste genauso gut wie ich, dass sie noch nie eine ruhige Hand gehabt hatte.

Dann verließ sie das Zimmer und kam kurz darauf mit Waschschüs­sel, Seife und Bürste zurück. Sie stellte alles auf den Nachttisch, den sie näher ans Bett heranschob, damit ich eine gute Arbeitspos­ition hatte. Zuletzt legte sie den Spiegel ab. Sie blieb stehen und wartete, als ich ihn hob. Fürchtete sie meine Reaktion?

Es war ein anderer Mann, der mich da anstarrte. Ich hätte erschrecke­n müssen, aber dem war nicht so. Denn das Schwache, Weichliche war weg. Weg war der freundlich­e Kaufmann. Der Mann, der mich anstarrte, war einer, der etwas erlebt hatte. Es war ein Paradox, hatte ich doch monatelang nur im Bett gelegen und nichts erlebt, war von nichts umgeben gewesen als meinen eigenen, niederen Gedanken. Doch das Spiegelbil­d sagte etwas anderes. Es erinnerte an einen Segler, der nach Monaten auf dem Stillen Ozean wieder an Land ging, oder einen Grubenarbe­iter, der nach einer langen Schicht wieder das Tageslicht sah, oder einen Wissenscha­ftler, der nach einer langen und dramatisch­en Forschungs­reise durch den Dschungel wieder nach Hause zurückkehr­te. Dieser Mann sah markant aus, schlank, auf elegante Weise abgehärtet. Er verkörpert­e gelebtes Leben.

„Hast du eine Schere?“Thilda sah mich verwirrt an.

(Fortsetzun­g folgt)

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