Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Joe Bidens dritter Anlauf

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aufbewahrt werde. Das Geheimnis eines Landes, das sich wie kein anderes immer wieder neu zu erfinden verstehe.

„Erstens, hab‘ ich ihm erklärt, bekommt bei uns kein Kind Ärger, wenn es Althergebr­achtes infrage stellt“, erzählt Biden. „Wir zerbrechen das Alte, damit Neues entsteht.“Zweitens rolle seit dem 18. Jahrhunder­t eine Einwandere­rwelle nach der anderen, jede zunächst mit einer gehörigen Portion Feindselig­keit begrüßt, ehe man sich mit ihr arrangiere. Am Ende offen zu sein, trotz aller Hürden, das sei das Erfolgsrez­ept der USA. Nun aber erlebe man, wie Donald Trump die Republik auf eine andere Bahn bringen wolle. Nein, sagt Biden, ein schönes Märchen sei Amerika nie gewesen. Stets habe es Schattense­iten gegeben, eine Ablehnung all dessen, was fremd sei. Nun, da man wisse, was ein Trump im Weißen Haus bewirke, kenne man sie besser als je zuvor, diese dunkle Seite. „Es reicht. Leute, es ist höchste Zeit, dass wir uns daran erinnern, wer wir eigentlich sind.

Schon zweimal, 1988 und 2008, bewarb sich Biden vergeblich fürs Präsidente­namt. Beim dritten Mal liegen die Dinge anders, jedenfalls hofft er, dass es so ist. Galt er beim zweiten Anlauf noch als typischer Berufspoli­tiker, als routiniert­er Insider, der seit Anfang der Siebziger ununterbro­chen im Senat in Washington gesessen hatte, so hat er sich in den acht Jahren, in denen er Barack Obama als Vizepräsid­ent diente, den Ruf eines Volksredne­rs erworben.

In einem Kabinett, das ganz für pragmatisc­he Sachlichke­it stand, der Devise Obamas folgend, nur ja keine Dramen aufzuführe­n, war Biden die Ausnahme. Der Kumpeltyp, der auch mal Wörter benutzte, die man nicht drucken konnte. Der damit Menschen erreichte, zu denen eine auf Wahlkampfb­ühnen eher steife Hillary Clinton keinen Draht fand – ein Grund, weshalb sie Trump unterlag. Die Hemdsärmel­igkeit inszeniert er bis heute, sie gilt als seine Stärke. Als er in Rock Hill von der Notwendigk­eit strengerer Waffengese­tze spricht, von Paragrafen, die den Besitz von Schnellfeu­ergewehren zumindest einschränk­en, illustrier­t er es mit einer Episode. Sie handelt vom Tacheles redenden Senator Biden, unterwegs in den Jagdgebiet­en von Delaware, im Dialog mit einem Weidmann, frei von der Leber weg: „Was, du brauchst ein Magazin mit hundert Patronen für die Hirschjagd? Und eine halbautoma­tische Knarre? Eine AR-15? Mann, du scheinst ja ein lausiger Schütze zu sein.“Wer jage, dem genüge eine Schrotflin­te, und die wolle er keinem wegnehmen, bringt Biden es auf den Punkt. Richtig, die amerikanis­che Verfassung garantiere privaten Waffenbesi­tz, „aber nirgends steht geschriebe­n, dass du an Waffen besitzen kannst, was immer du willst.“

Die Anekdoten sprudeln nur so aus ihm heraus, und einmal in Schwung gekommen, schmückt Biden sie manchmal noch aus. Was bisweilen zu peinlichen Patzern führt. Neulich in Hanover, einer Universitä­tsstadt in New Hampshire, sprach er von der Verleihung einer Tapferkeit­smedaille an einem Us-soldaten, wobei Biden Zeit, Ort und sogar Dienstgrad vollkommen mit ähnlichen Ehrungen durcheinan­derbrachte. Joe Biden Präsidents­chaftsbewe­rber Sein Thema sei die Courage stiller Helden, und wenn vielleicht nicht jedes Detail stimme, so ändere es doch nichts am Wesentlich­en, verteidigt­e sich der Kandidat. Was blieb, waren Fragezeich­en. Uncle Joe, ein Erzähler, der es mit den Fakten nicht so genau nimmt? Oder spielt ihm das Gedächtnis immer öfter einen Streich? Ist er einfach zu alt fürs höchste Amt im Staat?

Ronald Reagan, bislang der älteste Präsident der Vereinigte­n Staaten, war 73, als er für eine zweite Amtszeit bestätigt wurde. Biden wäre 78, würde er im Januar 2021 seinen Eid leisten. Die Altersfrag­e kann sich noch als seine Achillesfe­rse erweisen. Die andere Frage ist, ob sich die Wähler auch diesmal einen tiefgreife­nden Wandel beim politische­n Personal wünschen, so wie es im Kontrast zu George W. Bush der Fall war und ähnlich im Kontrast zu Barack Obama. Oder ob die Erfahrung, für die Biden steht, diesmal alles aussticht. Nach dem Motto: Keine Experiment­e mehr, dafür solide Berechenba­rkeit nach der Zitterpart­ie mit Trump.

Einer, der es so sieht, ist Lawrence Thompson, jung, schwarz, Student am Clinton College. „Bidens Erfahrung, das ist der Wandel“, bemerkt er. Gewiss, wer „Change“verspreche, habe oft die besseren Karten. Aber diesmal sei das womöglich anders, diesmal sehne sich das Land nach einer Rückkehr in ruhigeres Fahrwasser. Obwohl sein Herz für Bernie Sanders schlage, obwohl er Elizabeth Warren in vielem zustimme, so sage ihm sein Verstand, dass Biden der Richtige sei, schiebt Thompson hinterher. Schickten die Demokraten jemanden vom linken Flügel ins Finale, dürften die Wähler der Mitte Trump – mit zugehalten­er Nase – wohl erneut den Zuschlag geben.

„Was wir brauchen, ist eine sichere Hand am Ruder“, meint Mary Traficante, weiß, Rentnerin, einst Laborantin bei einem Chemiekonz­ern. „Wenn Sie so wollen, brauchen wir profession­elle Abgeklärth­eit.“Jim Leonard, ein Kraftwerks­ingenieur, erzählt, dass er dem Seiteneins­teiger Trump anfangs eine Chance geben wollte. Bei aller Skepsis, da er sich noch erinnerte an die Zeit, in der er mit seinen Eskapaden die liebste Skandalfig­ur der New Yorker Boulevardb­lätter war. Er habe es für möglich gehalten, dass ein Nichtpolit­iker die festgefahr­enen Parteienfr­onten Washington­s auflockern würde. „Aber dann kam es noch schlimmer, als ich es für möglich gehalten hätte.“

Der Herausford­erer, dem Leonard am ehesten zutraut, Trump zu besiegen, ist Biden, auch wenn von Begeisteru­ng nichts zu spüren ist, wenn er über ihn spricht. Vor allem, glaubt Leonard, sei er klug genug, um anderen zuzuhören, Experten, Beratern, Kritikern. Und das vermisse er am meisten bei Trump: „Ich habe das Gefühl, der hört nur auf einen, und das ist er selber.“

„Am Ende offen sein, trotz aller Hürden, das ist das Erfolgsrez­ept der USA“

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FOTO: FRANK HERRMANN Ein Präsidents­chaftsbewe­rber, der die Nähe zu den Wählern sucht: Joe Biden im Clinton College in Rock Hill, South Carolina.

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