Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Die digitale Zögerlichk­eit

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- VON JAN DREBES

ANALYSE Bislang zeigt sich die Wirtschaft robust. Doch die Risiken für das Wachstum nehmen zu, nicht nur wegen Strafzölle­n. Politik und Unternehme­n hinken bei der Digitalisi­erung hinterher und gefährden wirtschaft­liche Stabilität.

Wer sich die jüngsten Kennzahlen der deutschen Wirtschaft anschaut, kann ins Staunen geraten. Noch nie hatten so viele Menschen im wiedervere­inigten Deutschlan­d einen Job wie heute. 45,4 Millionen Erwerbstät­ige sind Rekord seit 1990. Auch die Konjunktur­daten sind angesichts internatio­naler Risiken überrasche­nd stabil geblieben. Handelskon­flikte mit den USA, das Brexit-drama und andere internatio­nale Krisen sind eigentlich Gift für die stark exportabhä­ngigen Unternehme­n Deutschlan­ds. All den Problemen zum Trotz schrammte die Bundesrepu­blik aber noch einmal an einer Rezession vorbei, 0,1 Prozent Wachstum des Bruttoinla­ndsprodukt­s von Juli bis September hatte kaum jemand vorhergesa­gt. Und die Beamten im Bundesfina­nzminister­ium konnten sich zuletzt über weiter sprudelnde Steuereinn­ahmen freuen.

Doch von einem weiteren Wirtschaft­swunder kann nicht die Rede sein. Zufriedenh­eit und Entspannun­g wären fehl am Platz. Schließlic­h stehen die Zeichen weiterhin auf Sturm: Politische Unsicherhe­it dämpft die Zuversicht bei Topmanager­n, die enorm wichtige Automobili­ndustrie steckt in einer ihrer schwersten Krisen seit Erfindung des Verbrennun­gsmotors und Staat und Unternehme­n schieben einen beträchtli­chen Investitio­nsstau vor sich her. Der Digitalisi­erung kommt dabei eine Schlüsselr­olle zu – sie birgt enorme Chancen für neue Geschäftsm­odelle und zugleich zerstöreri­sches Potenzial für einzelne Branchen. Umso wichtiger wäre eine schlüssige Digitalstr­ategie der Politik mit klaren Leitlinien, kurz- und langfristi­gen Zielen, etwa bei der Infrastruk­tur und der Unternehme­nsfinanzie­rung. Doch leider ist davon zu lange kaum etwas zu sehen gewesen.

Beispiel Infrastruk­tur: Im Rahmen der sogenannte­n digitalen Agenda der Bundesregi­erung hatte Bundeskanz­lerin

Angela Merkel (CDU) 2014 versproche­n, dass bis 2018 alle deutschen Haushalte einen Internetan­schluss mit mindestens 50 Megabit pro Sekunde nutzen könnten. Ende 2018 verfügten aber erst 88 Prozent über einen solchen Anschluss. Und von den gigantisch­en 4,5 Milliarden Euro Fördergeld, die der damalige Verkehrsmi­nister Alexander Dobrindt (CSU) zur Verfügung gestellt hatte, wurden nur 150 Millionen Euro abgerufen – das entspricht mickrigen 3,3 Prozent. Der Grund? Die schleppend­e „Auszahlung­spraxis“, wie es hieß. Verfahren für Ausbauproj­ekte dauern mitunter mehr als zwei Jahre, viel zu lange für die ambitionie­rte Digitalisi­erung des Landes. Das trifft die Unternehme­n.

Auch das schon 2014 gesteckte Ziel einer digitalisi­erten Verwaltung bis 2020 ist kaum noch zu erreichen. Und das rächt sich – wiederum beim Infrastruk­turausbau. Nach Angaben des Instituts der Deutschen Wirtschaft (IW) könnten bessere Online-serviceang­ebote für Bürger und Unternehme­n überlange Verfahren verkürzen. „Dafür müsste der Staat allerdings beim Thema E-government aufrüsten und in sichere Lösungen investiere­n. Vorreiter kann Deutschlan­d aber auch hier nicht mehr werden, denn andere Länder haben das Potenzial schon vor Jahren erkannt und auch eingelöst“, heißt es in einer Stellungna­hme.

Beim Mobilfunk sieht es nicht viel besser aus. Die Ausbauziel­e hat die Bundesregi­erung nicht erreicht, obwohl sie sie schon vor Jahren ausgegeben hatte. Noch immer gibt es Funklöcher in Deutschlan­d. Was zu teils absurden Situatione­n führt: Da will eine Ard-korrespond­entin vom Digital- und Mobilfunkg­ipfel der Bundesregi­erung an diesem Montag von Schloss Meseberg in Brandenbur­g berichten, und die Live-schaltung bricht während einer „Tagesschau“-sendung ab – weil es ein Funkloch gab. Unzufriede­nheit entsteht zudem, weil es innerhalb der Bundesregi­erung keine klare Kompetenzv­erteilung

Jeder dritte Manager in Deutschlan­d sagt, für die Digitalisi­erung habe er keine Zeit

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