Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
Zwischen Syrien und Wolfsburg
Der türkische Einmarsch in Nordsyrien hat die Pläne für ein Vw-werk nahe Izmir in Gefahr gebracht. Unter einer Entscheidung gegen die Türkei würde vor allem die Bevölkerung leiden. Ankara aber gibt sich selbstbewusst.
MANISA/ANKARA Immer dann, wenn ein Offizieller des türkischen Regierungsapparats nach der derzeitigen Beziehung zwischen Deutschland und der Türkei gefragt wird, holt er erst mal aus. Kein solches Gespräch kommt ohne den nostalgisch anmutenden Hinweis auf die Vergangenheit aus. Von einer „langjährigen Partnerschaft“ist dann die Rede, einer „traditionellen Verbundenheit“, einer auf jahrzehntelanger Bindung aufbauenden Freundschaft. Je nach Situation erwähnt man auch mal die Waffenbrüderschaft während des Ersten Weltkriegs. Doch genau darin, in dem Verweis auf das Vergangene, werden die Differenzen der Gegenwart offenbar: Deutschland und die Türkei erleben im Moment schwere Zeiten. Sinnbildlich dafür steht auch die verschobene Entscheidung über ein neues Vwwerk in der Türkei.
Bis zum Jahresende will der Volkswagen-konzern einen Beschluss über den Bau des neuen Werks in der Türkei fassen. VW hatte die Entscheidung über einen Neubau in Manisa nahe Izmir wegen der massiv kritisierten türkischen Militäraktionen in Nordsyrien Mitte Oktober auf Eis gelegt. Zuvor hatte vieles darauf hingedeutet, dass sich die Türkei als Standort durchsetzen würde. Die türkische Wirtschaft schwächelt seit Jahren, eine Investition dieser Größenordnung wäre willkommen.
„Wer in die Türkei investiert, gewinnt“, sagt der türkische Industrieund Technologieminister Mustafa Varank. „Von einem professionellen Konzern erwarten wir, dass er kommerzielle Interessen verfolgt und entsprechend rationale Entscheidungen trifft.“Der Minister gibt sich selbstbewusst. Alle wirtschaftlichen Faktoren würden für die Türkei sprechen: Infrastruktur, eine erfahrene, breit gefächerte Automobilund Zuliefererbranche und vor allem gut ausgebildete Fachkräfte. Varank, der ehemalige Berater von Präsident Recep Tayyip Erdogan, sagt: „Wir erwarten von VW eine wirtschaftliche, nicht eine politische Entscheidung. Wirtschaft und Politik dürfen nicht miteinander vermischt oder gar verwechselt werden – wer das tut, berücksichtigt nicht die Interessen seines Unternehmens.“
Es geht also um die Frage, wie viel Politik in wirtschaftliche Entscheidungen einfließen kann und wie unabhängig wirtschaftliche Investitionen von politischen Taktiken, Meinungen oder Prinzipien sein können. Im Fall Volkswagen zeigt sich die Symbiose aus ökonomischen und politischen Interessen besonders komplex, ist doch das Land Niedersachsen an dem Konzern beteiligt. Im Aufsichtsrat sitzen der niedersächsische Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) und der Minister für Wirtschaft und Arbeit, Bernd Althusmann (CDU). Die Türkei kann noch so sehr auf die Trennung von Wirtschaft und Politik pochen, in Wahrheit könnten Politik und Wirtschaft kaum enger miteinander verflochten sein.
Auf die Frage, ob Vertreter der türkischen Regierung Gespräche mit ihren deutschen Kollegen gesucht haben, um für den Standort Türkei zu werben, entgegnet Varank: „Es geht um eine Entscheidung des Vw-konzerns, deswegen stehen wir mit VW in Kontakt, nicht mit Politikern.“Auch nicht mit Landespolitikern. Blinder kann man sich für die Realität kaum zeigen. Denn wenn das Argument gegen eine Investition ein politisches ist, dann ist die gebetsmühlenartige Wiederholung von der wirtschaftlichen Entscheidung nur noch eine Farce. Damit zeigt sich die türkische Politik weitestgehend ignorant gegenüber den Konsequenzen ihres Handelns. Dass die Militäroperation in Nordsyrien – vom türkischen Staat mal als sicherheitspolitische Strategie und mal als Selbstverteidigung im Sinne des Völkerrechts deklariert – nicht nur Naserümpfen auf diplomatischer Ebene
und ein paar Demonstrationen europäischer Kurden auslösen würde, war einigen offenbar nicht bewusst. Einzusehen, dass dieser von der gesamten westlichen Welt als völkerrechtswidrig eingestufte Einmarsch auch ganz konkrete negative Auswirkungen hat, dagegen sträubt sich Erdogans Regierung.
Stattdessen beschreiben Varank und Co. die Türkei als ein Eldorado für Investoren. Der Staat baue kontinuierlich bürokratische Hürden ab, betreibe investorenfreundliche Politik, unterscheide nicht zwischen nationalen und ausländischen Firmen. Mehr als 7000 deutsche Unternehmen sind laut dem Minister in der Türkei tätig und bieten 140.000 Menschen Jobs. Zuletzt habe MAN, dessen erster Produktionsstandort
außerhalb Deutschlands 1966 in der Türkei seinen Betrieb aufnahm, angekündigt, seine Investitionen auszubauen und dafür weitere Grundstücke zu erwerben. Und rein faktisch widerspricht eigentlich niemand: Dass sich die Türkei am ehesten für ein neues Werk eignet, das sehen alle Beteiligten ähnlich. Doch das ist eben nur die eine Seite – die andere Seite ignoriert die Türkei geflissentlich. Ihre Botschaft an Deutschland ist klar: Wer wirtschaftliche Entscheidungen von einzelnen politischen Differenzen abhängig macht, begeht einen Fehler. Und wenn VW sich doch etwa für Bulgarien entscheiden sollte – tja, dann werde VW das sehr schnell bereuen.
Das mag zunächst selbstbewusst klingen. Doch dahinter lauert die Angst vor einer wirtschaftlichen Katastrophe: Die Arbeitslosigkeit ist im August auf 14 Prozent gestiegen, die Inflation lag im Oktober bei 8,6 Prozent, die Autoproduktion ging im vergangenen Jahr deutlich zurück – und auch Prognosen für das laufende und für das nächste Jahr sagen Verluste voraus. Der Industrieminister kann noch so stolz von der Widerstandsfähigkeit der türkischen Wirtschaft erzählen, die wirtschaftliche Realität in seinem Land zermürbt die Bürger. Zuletzt hatten Suizide junger Unternehmer der Mittelschicht Schlagzeilen gemacht, die den Wertverfall der Türkischen Lira nicht kompensieren und ihre Firmen deshalb nicht halten konnten. Innerhalb von zwei Wochen war von fünf ähnlichen Fällen berichtet worden.
Das Eis ist dünn, auf dem sich die türkische Regierung bewegt. Die Erzählung, eine Vw-entscheidung gegen die Türkei würde dem Konzern mehr weh tun als dem Land, mag in die seit dem Militäreinmarsch neu angeschwollene patriotische Rhetorik passen – doch die Rechnung geht anders: Es ist die Rede von 4000 Menschen, die das neue Volkswagen-werk beschäftigen könnte. Man muss es sich leisten können, darauf zu verzichten. Die Türkei kann sich das derzeit nicht leisten.